Gewalt gegen Kinder passiere meist, weil Erwachsene überfordert sind und sich nicht beherrschen können, sagt Strafrechtsexpertin Katharina Beclin. Höhere Haftstrafen helfen da kaum.

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Beclin: Ausbau der Jugendwohlfahrt statt härterer Strafen.

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Standard: Das Justizministerium schreibt Richtern künftig bei Gewalt gegen Kinder eine höhere Strafrahmenuntergrenze vor. Wurde bislang zu milde geurteilt?

Katharina Beclin: Nein. Aber wir haben generell in diesem Bereich nicht das Problem, dass zu milde, sondern dass zu wenig verurteilt wird. Und noch viel größer ist das Problem im Vorfeld, dass viel zu wenig angezeigt wird. Nur jeder zehnte bis zwanzigste Fall von sexuellem Missbrauch kommt beispielsweise zur Anzeige, und in weiterer Folge kommt es nicht einmal bei jedem vierten Angezeigten auch zu einer Verurteilung. Was aber nicht heißt, dass eine Anzeigepflicht sinnvoll wäre.

Standard: Warum nicht?

Beclin: Eine Anzeigepflicht bringt einfach nichts. Ein Großteil der Delikte liegt ja im Familienbereich. Und da wird bewusst nicht angezeigt, weil man Angst hat, den Vater - oder wen auch immer - in Probleme zu stürzen. Opfer haben Angst vor der Auseinandersetzung. Und solange es im Verfahren so läuft, dass ein Großteil ohnedies eingestellt wird, besteht auch kein Interesse an mehr Anzeigen. Außerdem würde eine Verschärfung der Anzeigepflicht dazu führen, dass noch mehr gezögert wird, medizinische Hilfe oder die Hilfe der Jugendwohlfahrt in Anspruch zu nehmen.

Standard: Eignen sich höhere Strafen als Mittel zur Prävention?

Beclin: Es gibt keinen einzigen empirischen Beleg dafür, dass eine höhere Strafe abschreckender wirkt als eine niedrigere Strafe.

Standard: Befürchten Sie, dass es jetzt zu weniger Anzeigen kommt?

Beclin: Das kann durchaus sein. Und es ist möglich, dass die Richter bei nicht so gravierenden Fällen vermehrt auf die Diversion ausweichen. Was ich prinzipiell für nicht schlecht halte - wenn es die richtige Maßnahme ist. Aber es ist letztlich nicht das, was der Gesetzgeber eigentlich will. Der will strengere Strafen. Aber ein Richter wird keinen Vater und keine Mutter wegen einer Tat, die ihm keine höhere Haftstrafe wert scheint, zu einer solchen verurteilen.

Standard: Wo liegt konkret das Problem, wenn jetzt für alle Delikte gegen Kinder Mindeststrafen von zumindest zwei Monaten vorgesehen sind?

Beclin: Es ist eine Beschneidung der richterlichen Entscheidungsmöglichkeiten, die nicht gerechtfertigt ist. Es gibt nichts zu entschuldigen, wenn Eltern einmal handgreiflich werden. Aber es gibt durchaus Fälle, die sicher nicht in Ordnung sind und vielleicht sogar strafbar - aber wo ich eben keine dreimonatige Haftstrafe brauche, sondern eine kurze bedingte Strafe reicht.

Man kann nicht generell sagen, dass bei Gewalt gegen Kinder mehr Schuld im Spiel ist. Meist haben wir nicht einen Tätertyp, der kalkuliert kleine Kinder quält. In der Regel sind das schwer überforderte Erwachsene, die intuitive Handlungen setzen. Betroffene sind unfähig, sich in einer bestimmten Situation zu beherrschen. Da kann man mit einer Strafdrohung sowieso nicht abschrecken.

Standard: Passieren Übergriffe gegen Kinder, schreit die Bevölkerung lautstark auf und fordert gesetzliche Konsequenzen. Ist die Politik da nicht in einer Zwickmühle, weil sie nach solchen Fällen handeln muss?

Beclin: Das Problem ist, dass in der Politik die Einstellung vorherrscht: "Ich muss was tun, aber es darf nichts kosten." Das neue Jugendwohlfahrtsgesetz liegt seit Jahren in der Schublade. Im Bereich der Jugendwohlfahrt bräuchte es aber dringend Änderungen. Durch mehr Personal muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass man in Zweifelsfällen rascher eingreifen kann. Nicht die Kinder wegnehmen - alleine in Wien sind rund 3000 Kinder fremduntergebracht, wir haben also gar nicht mehr Plätze -, aber eine begleitende Erziehungshilfe.

Nur so kann man präventiv arbeiten, denn die tragischen Todesfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Die große Masse an misshandelten Kindern fällt nicht gravierend auf, wird aber vielleicht die nächste Generation gewalttätiger Eltern. Statt höherer Strafen wäre daher ein Ausbau der Jugendwohlfahrt sinnvoller.

Standard: Fürchten Sie jetzt auch mehr Freisprüche?

Beclin: Schwer zu sagen, ob sich das jetzt bereits auswirkt. Aber etwa beim Verbotsgesetz hat sich gezeigt, dass zu der Zeit, als nur sehr hohe Strafen zur Verfügung standen, bei Richtern die psychologische Hemmschwelle höher lag, jemanden zu verurteilen. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD-Printausgabe, 14.11.2011)