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Ob Kirchenskandal oder Kinderheimaffäre: Der Verfolgbarkeit länger zurückliegender Straftaten sind grundrechtliche Grenzen gesetzt - nicht aber der Wahrheitsfindung.

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Frank Höpfel: Plädoyer für alternativen Justizmechanismus.

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Informationsmängel in Bezug auf die österreichische Rechtssituation erschweren die Debatte über die massenhaft bekanntgewordenen schweren Übergriffe auf Kinder in Klöstern und Kinderheimen. Dies gilt insbesondere für die Frage der Verjährung.

Beschränken wir uns auf Delikte, die seit 1. 1. 1975, dem Datum des Inkrafttretens des damals "neuen" Broda'schen Strafgesetzbuches ("StGB") begangen worden sind, stellt sich die Faktenlage wie folgt dar: Beim Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen (ursprüngliche Bezeichnung: "Beischlaf mit Unmündigen") tritt die Verjährung, wenn die Tat zu einer schweren Gesundheitsstörung geführt hat, 20 Jahre nach dem letzten Delikt ein.

Seit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 beginnt diese Frist bei Sexualdelikten gegen Minderjährige erst mit der Volljährigkeit des Opfers und seit den Änderungen im Jahr 2009 noch weitere zehn Jahre später zu laufen, also mit Vollendung des 28. Lebensjahres. Die Begründung dafür ist, dass ein minderjähriges (und vor allem: ein unmündiges) Opfer typischerweise viele Jahre braucht, sich das ihm angetane Leid bewusst zu machen, darüber zu sprechen und insbesondere den Schritt zur Anzeigeerstattung zu gehen. Insofern ist es gleichgültig, wann und wie lange das Opfer die Übergriffe zu erleiden hatte.

Bei den genannten Fristverlängerungen wurde verfügt, dass sie auf alle Taten Anwendung finden sollten, deren Verfolgbarkeit nicht bereits verjährt war. Der Zeitpunkt der letzten Tat darf daher nicht vor dem 1. 10. 1978 gelegen sein. Darüber noch hinauszugehen und für strafbar zu erklären, was bereits verjährt war, stünde hingegen mit dem Rückwirkungsverbot (Artikel 7, Europäische Menschenrechtskonvention) im Widerspruch.

Im internationalen Vergleich hat unsere Regelung schon das äußerste Maß erreicht. In lange zurückliegenden Fällen sind nämlich solche Beweisschwierigkeiten zu befürchten, dass eine gleichmäßige Strafrechtspflege fast ausgeschlossen erscheint. Dann aber können die Gerechtigkeitserwartungen der Opfer wie der Allgemeinheit nicht mehr erfüllt werden. Die manchmal vorgebrachte Analogie zum Mord (unverjährbar) lässt sich nicht rechtfertigen.

Nach geltendem Recht hat ein Opfer also praktisch bis kurz vor Ende seines 48. Lebensjahres Zeit, sich an die Behörden zu wenden. Mit der ersten Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigter oder einer Antragstellung der Staatsanwaltschaft an das Gericht auf Durchführung einer sogenannten kontradiktorischen Vernehmung des Opfers (unter Beteiligung des Beschuldigten) ist die Verjährung unterbrochen. Damit sind aber, wie gesagt, nur Taten erfasst, die ab dem 1. 10. 1978 begangen oder fortgesetzt wurden.

Für ältere Fälle wäre m. E. die Einrichtung eines alternativen Justizmechanismus sinnvoll: Eine "Wahrheitskommission" mit bundesweiter Zuständigkeit sollte Licht in die Vergangenheit der Kinderheime bringen. Da es verschiedene Träger gibt, bedarf die Organisation dieser Wahrheitskommission einer eigenen Rechtsgrundlage. Unabhängig von Organen zur Kontrolle der Bundes- oder Landesverwaltung (von der Volksanwaltschaft bis zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss) sollte ihre Arbeit auf einer rein zivilrechtlicher Ebene vor sich gehen. Hier bildet, anders als im Strafrecht, die Verjährung (derzeit: 30 Jahre) keine solche Barriere, sondern könnte sogar verlängert werden.

Lässt man rückwirkend Schadenersatzansprüche für noch ältere Übergriffe zu, so ist nur darauf zu achten, dass dann kein Vorwurf strafrechtlicher Art daraus wird. Andererseits wäre unbedingt danach zu trachten, die Gefahr von Selbstjustiz zu vermeiden. - Die Quadratur des Kreises? Ich denke nicht: Die Wahrheitskommission könnte reumütigen Tätern eine Möglichkeit einräumen, sich symbolisch zu entschuldigen; dies unter einem völligen Verzicht auf die Öffentlichkeit des Verfahrens. Hingegen sollte sie zumindest in ihrem amtlichen Bericht die Identität solcher festgestellter Verantwortlicher verzeichnen, die nicht bereit sind, zu ihren Verfehlungen zu stehen. Eine darüber hinausgehende Sanktion (öffentliches Benennen im Sinne eines "name and shame") würde ein echtes Strafverfahren und eine Verurteilung verlangen. Dies aber ist in weitem Umfang, wie aufgezeigt, wegen Verjährung ausgeschlossen.

Auch für einen alternativen Bearbeitungsprozess ist von entscheidender Bedeutung, dass man Opfern bei Interesse eine Teilnahme ermöglicht. Um dafür eine geeignete Form zu finden, kann auf die Erfahrungen zurückgegriffen werden, die man mit der Prozessbeteiligung von Opfern im Strafverfahren gemacht hat. Die dort entwickelten Regelungen können auch außerhalb des Strafrechts Verwendung finden. Mit Videotechnik und Identitätsschutz ist es gelungen, die belastende Wirkung einer Zeugenaussage wesentlich zu reduzieren. So konnte die Aussagewilligkeit von Opfern und damit die Wahrheitsfindung gefördert werden.

Die Rechte der mutmaßlichen Schädiger sind zwar gleichzeitig im Auge zu behalten. Da es sich aber um kein Strafverfahren handelt, ist die Transparenz nicht im selben Maße herzustellen wie für die klassischen Verteidigungsrechte. Die Aussagen können also in schonendster Form durchgeführt werden. Nur für die Kommission selbst wird das Minenspiel eines mutmaßlichen Opfers sichtbar bleiben müssen. (Frank Höpfel, DER STANDARD-Printausgabe, 14.11.2011)