Forscherin Magdalena Srienc-Ściesiek steht vor einem Tisch mit Skelettknochen und hält einen Oberschenkelknochen in der Hand, neben ihr steht ein anatomisches Schauskelett.
Bioarchäologin Magdalena Srienc-Ściesiek untersuchte für die Studie Skelettknochen von Kindern und Jugendlichen aus dem Jauntal in Kärnten.
ÖAW/Klaus Pichler

Piraten und Seefahrer sind die üblichen Beispiele für Gruppen, die von der Krankheit Skorbut betroffen sind. Wer wochen- oder monatelang über die Weltmeere reist, ernährt sich von dem, was sich gut auf Schiffen lagern lässt. Raue Mengen an frischem Obst und Gemüse gehören normalerweise nicht dazu, weil sie schnell verderben.

Das führt in einigen Fällen zu einem schweren Vitamin-C-Mangel, also Skorbut: Die Blutgefäße können nicht gut instand gehalten werden. Zu den Folgen gehören Blutarmut, Energiemangel, höhere Anfälligkeit für Infektionen sowie massive Zahnfleischprobleme.

Doch Seemänner (und so manche Seefrau) waren nicht die Einzigen mit derartigen Beschwerden. Von einem spannenden Fall berichtet ein Forschungsteam um die Archäologin Magdalena Srienc-Ściesiek von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien im Fachmagazin International Journal of Paleopathology: In frühmittelalterlichen Siedlungen im Jauntal im Bundesland Kärnten finden sich erstaunlich viele Babys mit Anzeichen für Skorbut.

Skelett im Kindesalter wird ausgegraben, Sicht von oben.
An Fundstätten im Jauntal wurden erstaunlich viele jung verstorbene Menschen entdeckt.
ÖAI/ÖAW

Dass man dies überhaupt feststellen kann, liegt daran, dass sich die Mangelerkrankung mitunter sogar in den Knochen manifestiert. Das gilt vor allem für junge Kinder, deren Knochen sich noch entwickeln, sagt Srienc-Ściesiek auf STANDARD-Anfrage: Bei ihnen kann schon ein acht Wochen dauernder Vitamin-C-Mangel Spuren hinterlassen.

Mit ihren Wiener Kolleginnen Sabine Ladstätter, Sylvia Kirchengast und Nina Richards untersuchte die Archäologin und Anthropologin Skelette von 86 nicht ausgewachsenen Menschen. Sie waren zwischen dem siebten und dem elften Jahrhundert in drei Siedlungen bestattet worden.

Einfluss der Jahreszeit

Die Auswertung zeigte, dass etwa die Hälfte der 13 untersuchten Ungeborenen sowie gut ein Viertel der 28 Säuglinge von Vitamin-C-Mangel gezeichnet waren. Dieser lässt sich an kleinen Löchern im Knochen erkennen: Expertinnen können sie etwa in den Augenhöhlen und anderen Schädelregionen finden sowie an den Rippen – in Bereichen, die sich nah an dichten Blutgefäßnetzwerken befinden.

Schädelknochen mit poröser Außenseite.
Am Schädel (hier: am Felsenbein, welches das Innenohr umgibt) finden sich kleine Löcher an der Knochenoberfläche –ein Indiz für Skorbut.
ÖAI/ÖAW/Magdalena Srienc-Ściesiek

Es ist nicht ganz leicht, diese Anzeichen an Knochen junger Individuen aufzuspüren und Skorbut zu diagnostizieren, sagt Srienc-Ściesiek. "Aber normalerweise gibt es nur ein oder zwei derartiger Fälle pro Fundstätte, das ist hier anders." Die Jauntal-Knochen sind gut erhalten, dafür spricht bereits die Tatsache, dass überhaupt fragile Knochen von Föten entdeckt wurden. Dennoch ist die hohe Sterberate bei Kindern laut der Forscherin "einzigartig".

Ihre Analysen haben die Archäologin betroffen gemacht: "Mein Sohn wurde im vergangenen November geboren, und ich frage mich manchmal, was wäre, wenn wir vor 1500 Jahren dort gelebt hätten." Saisonale Schwankungen spielten wohl eine wichtige Rolle: Kommt ein Kind während oder kurz vor einer entbehrungsreichen Zeit zur Welt, wie sie der europäische Winter meist darstellt, wirkt sich das auf die Gesundheit aus. Entsprechend hätte eine Geburt im späten Herbst wohl für ein relativ hohes Skorbutrisiko gesorgt, "was als Mutter ein erschreckender Gedanke ist".

Bei Jugendlichen und Erwachsenen von den untersuchten Kärntner Fundstätten fielen keine entsprechenden Anzeichen an den Knochen auf. Es gab aber auch vier Fälle von Vitamin-C-Mangel bei etwa zehnjährigen Kindern. Sie könnten durch verhältnismäßig einseitige kohlehydratreiche Ernährung eingetreten sein. Ein anderer wichtiger Aspekt war die generelle Versorgungslage, die über die Ernährung der Mütter die Gesundheit der sich entwickelnden Föten und der gestillten Babys beeinflusste.

Eingeschränkter Handel

Hier spielte offenbar das Ende des Römischen Reichs mit hinein, das den Wandel von Antike zu Mittelalter markiert. "Nach dem Untergang des Römischen Reiches dürften die Handelsnetze geschwächt worden sein", sagt die Archäologin. Das betraf auch die Provinz Noricum, die sich etwa von Kärnten bis zur Steiermark nach Südbayern erstreckte.

Eine Analyse deutet darauf hin, dass vor dem Ende des Römischen Reichs große Rinder aus dem heutigen Italien in die Region importiert worden waren: "Danach änderte sich die Größe des Viehs im Jauntal drastisch, im frühen Mittelalter mussten sich die Menschen wohl auf die in dieser Region verfügbaren Rinder beschränken, die kleiner waren." Ähnliche Arten von Wandel könnten auch andere Lebensmittel betroffen haben.

Völkerwanderung

In der Völkerwanderungszeit kamen andere Populationen ins Jauntal, die sich mit Ansässigen vermischten und womöglich durch kulturell geprägte Ernährungsweisen Veränderung mit sich brachten. Grabbeigaben deuten auf slawische Gruppen hin sowie auf die Awaren – ein ursprünglich aus Zentralasien stammendes Volk, das nach den wortwörtlichen Vorreitern, den Hunnen, nach Ost- und Zentraleuropa kam. Sie wurden teils mit Reitgeschirr und Pferden bestattet.

Die Frage, woher die Einwanderer und Einwanderinnen kamen, sollen künftige DNA-Tests beantworten. Weitere Analysen könnten zudem zeigen, ob sich die Ernährung Erwachsener und die der Kinder unterschieden. Und nicht zuletzt wäre es interessant herauszufinden, ob auch andere alpine Regionen mit einem so hohen Skorbutrisiko bei Kindern zu kämpfen hatten – eine überraschende Gemeinsamkeit mit Seeleuten. (Julia Sica, 2.5.2024)