Ein Tisch mit verschiedenen Schminkutensilien darauf.
Hübsch bunte Schminkutensilien, düstere Themen – etwa die enorme Diskriminierung der Rom:nja und Sinti:zze.
Regine Hendrich

Was ist das alles, was sich die junge Frau in dem Instagram-Video ins Gesicht schmiert? Welcher Concealer, welche Foundation? Und wie macht sie es bloß, dass die Übergänge der unterschiedlichen Schichten so wunderbar unsichtbar sind? All diese Fragen bleiben offen. Denn Anna Jandrisevits vom österreichischen Onlinemedium Die Chefredaktion redet über etwas ganz anderes als über die Produkte, deren Provenienz und optimale Anwendung – so wie es sonst in Make-up- Tutorials üblich ist. Stattdessen spricht Jandrisevits über den Internationalen Tag der Rom:nja und Sinti:zze am 9. April und das große Ausmaß ihrer Diskriminierung.

Warum muss sie währenddessen tupfen, cremen und tuschen? "Weil Instagram politische Inhalte nicht mag, trickse ich den Algorithmus jetzt aus und schminke mich dabei", erklärt die Journalistin.

Der Konzern Meta hat im Februar angekündigt, dass politische Inhalte nicht mehr algorithmisch verstärkt werden sollen. Konkret betroffen sind Inhalte, die Gesetze, Wahlen oder soziale Themen betreffen. All das bekommen User:innen nur mehr angezeigt, wenn sie dem Account selbst folgen, der dazu postet, oder wenn man manuell die Einstellung aktiviert, dass man diese Inhalte sehen will. Nackte Haut und schön geschminkte Gesichter junger Frauen mag der Algorithmus allerdings weiter sehr. Die Content-Creatorin und Unternehmerin Madeleine Alizadeh kombiniert in ihrer Reihe "Ass and Politics" das algorithmische Hui und Pfui und erzählt auf Nachfrage des STANDARD von zahlreichen Rückmeldungen, dass ihr Nackte-Haut-Content an die erste Stelle gereiht wurde. Auch der Vergleich mit "angezogenen" Politikinhalten zeigt: Nackt performt besser.

Mit sanfter Stimme gegen Ausbeutung

Dass politische Inhalte ab sofort mit Handbremse unterwegs sein sollen, stößt in der Community auf viel Kritik. Instagram-Chef Adam Mosseri begründet die Einschränkung mit einem großen Aufwand für die Moderation politischer Inhalte, während man an diesen Debatten gleichzeitig nichts verdiene. Man wolle daher lieber auf Mode, Schönheit, Musik und Entertainment setzen. Da kann nicht so viel schiefgehen wie bei politischen Inhalten, vor allem in dem Superwahljahr 2024, in dem die sozialen Plattformen wegen der Verbreitung von Propaganda und Falschinformationen unter genauerer Beobachtung stehen. Doch auf der anderen Seite gehen politische Bildung oder aufklärende Inhalte verloren, so die Kritik. Damit sie diese Inhalte weiter breitenwirksam bringen kann, gibt Madeleine Alizadeh dem "Algorithmus, was er sehen möchte", sagt sie mit sanfter Stimme, im Bikini oder mit offenem Hemd in ihren "Ass and Activism"-Videos. In diesen spricht sie mit sanfter Stimme über Feminismus oder kulturelle Ausbeutung, zwischendurch hebt sie den Hintern, um sich selbst einen ordentlichen Klaps zu geben.

Ist das kluger Widerstand gegen die Algorithmen-Policy großer Tech-Konzerne? Oder schaden die dafür benutzten und ohnehin schon weitverbreiteten Stereotype mehr, als die Vermittlung politischer Informationen bringt?

"Es ist ein alter Vorwurf: Wenn Frauen typisch weibliche Dinge tun, könnten sie nicht politisch sein", sagt Katharina Klappheck, Politikwissenschafter:in und Expert:in* für feministische Netzpolitik. "Als im Zweiten Weltkrieg Frauen durch Stricken kartografierten, wurden sie nicht für fähig gehalten, verschlüsselte Botschaften senden zu können." Auch typisch weibliche Marker wie Make-up werden schon lange für politische Botschaften genutzt, bereits die Suffragetten nutzten Lippenstift als "Kriegsbemalung" beim Kampf um das Frauenwahlrecht. "Es geht also nicht immer um den männlichen Blick", so Klappheck.

Ganz neu ist auch die Verknüpfung von Beauty und Politik auf Social Media nicht. 2020 sprach die US-amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez neben dem "Boom!"-Effekt ihres knallroten Lippenstifts auch über ihren Alltag als Politikerin und Woman of Color. Im Jahr davor kritisierte die damals 17-jährige Tiktok-Nutzerin Feroza Aziz während des Einsatzes der Wimpernzange den brutalen Umgang Chinas mit der muslimischen Minderheit der Uiguren.

Und gleichzeitig spielt man dennoch nach den Regeln des chinesischen Konzerns? "Man kann Individuen im Kampf gegen große Plattformen nicht vorwerfen, dass sie nach diesen Regeln spielen – es ist ein legitimer Protest." Dieser könne letzten Endes auch eine andere Zielgruppe als klassische Medien erreichen. Zwar spielen klassische Medien bei allen Altersgruppen noch immer eine große Rolle, doch Formate auf Social Media könnten noch einmal anders Lust auf Politik machen und andere Partizipationsmöglichkeit bieten, meint Klappheck.

Alles sehr schön

"Womöglich geht es dabei gar nicht so sehr um einen neuen Informationsgewinn." Menschen, die diese Videos sehen, hören wahrscheinlich nicht zum ersten Mal von der Klimakrise. Es gehe eher darum, dass sich Menschen über so einen Zugang identifizieren und so Barrieren abgebaut werden, um sich selbst mit Politik zu beschäftigen und Meinungen zu vertreten.

Dass die genannten Macherinnen von politischen Videos mit vermeintlich unpolitischer Ästhetik alle den gängigen Schönheitsanforderungen bestens entsprechen, ist kein Zufall. Klappheck hält es für wichtig, transparent zu machen, dass Transfrauen oder schwarze Frauen im Gegensatz zu normschönen Cis-Frauen keine Chance hätten, so auf politische Inhalte aufmerksam zu machen. "Bei ihnen würde wohl niemand mehr auf die Inhalte hören", meint Klappheck. Allerdings würden auch normschöne Cis-Frauen unter patriarchalen Vorstellungen leiden, wenn ihnen die politische Handlungsfähigkeit oder politisches Wissen abgesprochen wird.

Was Katharina Klappheck in vielen dieser Debatte fehlt, ist die Transparenz, dass diese Plattformen per se diskriminierend sind. Sei es durch die niedrige Bezahlung von Content-Moderator:innen oder durch fehlende psychische Betreuung. Davon sind oft Menschen im Globalen Süden betroffen, die diese Jobs erledigen. Ein klares Gefälle zeige sich auch dadurch auf, dass sich in Europa oder den USA selbst wenig problematische Inhalte wie die Aufklärung zur Klimakrise als Make-up-Tutorials tarnen müssen, während vor allem im Globalen Süden viel an gewaltverherrlichendem und volksverhetzendem Content auf den Plattformen zu sehen ist. "Dort gibt es für große Plattformanbieter noch wenig monetäre Anreize, vor allem durch Werbeverkäufe", sagt Klappheck. Deshalb würden die Anbieter weniger Ressourcen bereitstellen, etwa in Form von Content-Moderator:innen, die die jeweilige Sprache sprechen – im Gegensatz zu europäischen Ländern und den USA.

Soziale Infrastruktur

Hilft letztlich also doch nur ein genereller Boykott? Das ist für Klappheck als Antwort zu einfach. Diese Plattformen seien schließlich Teil einer sozialen Infrastruktur, "wir boykottieren ja auch keine Straßen, was wir aber boykottieren oder kritisieren, sind einzelne Großprojekte".

Aber man könnte darüber nachdenken, die lange feministische Tradition der Streiks auszugraben. Dabei solle es aber nicht darum gehen, einzelne Influencerinnen zu bestreiken, weil sie keinen perfekten Aktivismus machen. Vielmehr solle es um die Plattformen selbst gehen, "sie sind es, über die sich Desinformation verbreiten kann, die diese fördern und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen haben".

Das grundlegende Problem sei, dass "wir es mit informellen und privaten Meinungsplattformen zu tun haben, die die Infrastruktur öffentlichen Lebens mitbestimmen", sagt Klappheck. Gleichzeitig ist es enorm schwer, genug Daten über Reichweiten oder darüber, was welche Meinung beeinflusst, zu bekommen. Noch einmal schwerer sei das bei einer Firma, die in einem autoritären Regime wie China ansässig ist.

Deshalb sei die zentrale Frage: Wollen wir in demokratischen Gesellschaften einen politischen Aktivismus, der auf kommerziellen Netzwerken mit einer Monopolstellung stattfindet? Besser wäre es, über alternative Netzwerke und deren demokratische Kontrolle nachzudenken, sagt Klappheck. "Wir brauchen eine Kommunikationsstruktur, die als ein öffentliches Gut betrachtet wird, eine Art öffentlich-rechtliches Social Media." (Beate Hausbichler, 2.5.2024)