Auf vielen Plätzen Europas, wie hier auf dem Altstädter Ring in Prag, wurde in der Nacht auf den 1. Mai 2004 der Beitritt zur EU frenetisch gefeiert.
Auf vielen Plätzen Europas, wie hier auf dem Altstädter Ring in Prag, wurde in der Nacht auf den 1. Mai 2004 der Beitritt zur EU frenetisch gefeiert.
Rene Volfik

Zwanzig Jahre sind vergangen seit der großen EU-Erweiterung vom 1. Mai 2004. Manche sahen die Entscheidung für den Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern damals als überhastet an, manche meinen bis heute, der Schritt sei zu rasch erfolgt. Doch wie lange und worauf hätte man noch warten sollen? Die Freiheitsrevolutionen in den einstigen kommunistischen Diktaturen, die den Großteil der damaligen Neulinge ausmachten, lagen bereits 15 Jahre zurück.

Die noch jungen und dennoch bereits erprobten Demokratien versprachen eine neue Dynamik für die gesamte Union, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Zudem schien es riskant, das geopolitische Machtvakuum außer Acht zu lassen, das der Zerfall der Sowjetunion hinterlassen hatte – und es wäre ignorant gegenüber jenen Beitrittswerbern gewesen, die nach der jahrzehntelangen Erfahrung sowjetischer Vorherrschaft ihren Platz in der EU sahen. Auch in den Kandidatenstaaten selbst war – mit Ausnahme Zyperns – die Entscheidung für eine EU-Mitgliedschaft in Referenden klar bestätigt worden.

Das alles heißt freilich nicht, dass es im Erweiterungs- und anschließenden Integrationsprozess nicht auch gehörig ruckelte. Etwas anderes war aber auch nicht zu erwarten. Die Aufnahme der vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, der beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern sowie der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Slowenien war ein gewaltiger und mutiger Eingriff in die politische Architektur Europas. Dass es da auch mal knirschen würde im Gebälk, war einkalkuliert.

Ungleiche Dynamik

Erstaunlich war aber, wie lange die Uhren in West und Ost mit unterschiedlicher Geschwindigkeit liefen, was die Wahrnehmung der Integration betrifft. Während manche ostmitteleuropäische Staaten längst ihren ersten EU-Ratsvorsitz hinter sich gebracht hatten, wurden sie im Westen bisweilen immer noch als "neue Beitrittsländer" bezeichnet. Selbst Befürworter der vertieften europäischen Zusammenarbeit lobten zwar gerne die Chance für junge Leute, ohne bürokratische Hürden in Berlin, Paris oder Madrid arbeiten zu können, sparten Warschau, Prag oder Tallinn rhetorisch aber oft aus. Meist geschah das wohl nicht einmal mit Absicht. Die erweiterte Union war bei vielen einfach noch nicht wirklich im politischen Bewusstsein verankert, während gerade die österreichische Wirtschaft von den neuen Märkten längst ganz praktisch profitierte.

Manche Irritationen waren und sind konkreter, und sie stellen die europäischen Spielregeln insgesamt auf eine harte Probe. Wenn etwa die inzwischen abgewählte nationalkonservative Regierung Polens mit Brüssel ihre Konflikte um die Rechtsstaatlichkeit ausfocht oder wenn sich Ungarns Regierungschef Viktor Orbán auch heute noch als Speerspitze jener Kräfte sieht, die gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse gebetsmühlenartig als ungebührliche Einmischungen "von außen" interpretieren, dann nährt das immer noch die Zweifel der Erweiterungsskeptiker von 2004.

Neue Verhältnisse

Und doch macht das Streben Russlands, seinen einstigen Einflussbereich mit Gewalt zu restaurieren, deutlich, wie richtig und wichtig es war, den ostmitteleuropäischen Demokratien die Tür in die EU zu öffnen. Die Tür in jenen Staatenbund also, der einst nicht zur Abgrenzung gegen einen äußeren Feind geschaffen wurde, sondern zur Abgrenzung gegen die Geister der eigenen Vergangenheit, die zu den Gräueln des Zweiten Weltkriegs geführt hatten.

Wie die EU auf die neue Weltlage reagieren will, wie sie nun ihre Verteidigungskapazitäten stärken kann, wie genau sie dabei ihr Verhältnis zur Nato gestaltet und wie sie die Aufnahme weiterer Mitglieder orchestrieren möchte – all das ist nun zu Recht Thema vieler Debatten. Gerade die ostmitteleuropäischen Staaten finden dabei mehr Gehör denn je. Spät, aber doch: Sie sind jetzt endgültig keine "Beitrittsländer" mehr, sondern zentrale Akteure im Kreis der europäischen Demokratien, die eine gute Chance und gute Gründe dafür haben, sich nicht erneut in Kleinstaaterei zu verlieren. (Gerald Schubert, 1.5.2024)