Johannes Anzengruber und Georg Willi
Der grüne Amtsinhaber Georg Willi (rechts) und der einstige ÖVP-Vizebürgermeister Johannes Anzengruber: Einer der beiden wird am Wahlsonntag als neuer Stadtchef der Tiroler Landeshauptstadt feststehen.
APA/EXPA/JOHANN GRODER

Das Ergebnis des ersten Wahlsonntags war eine Überraschung. Denn fast alle in Innsbruck hatten erwartet, dass es Amtsinhaber Georg Willi von den Grünen oder der aus der ÖVP ausgeschlossene und mit eigener Liste angetretene Johannes Anzengruber in die Stichwahl um das Bürgermeisteramt in Tirols Landeshauptstadt schaffen würde. Aber nur wenige hatten am Tapet, dass es gleich beide sein könnten – und dass der in so mancher Umfrage erstgereihte FPÖ-Kandidat Markus Lassenberger mit Platz drei an einer zweiten Runde scheitern würde.

Die nächste vorprogrammierte Überraschung dürfte es bei der Stichwahl am Sonntag geben. Denn die wenigsten politischen Beobachterinnen und Beobachter – inklusive jenen aus der Politikwissenschaft – trauen sich im Vorfeld wirklich, eine Einschätzung über den Favoritenstatus der beiden verbliebenen Kandidaten abzugeben.

Unzufriedenheit mit Willis Amtszeit

Zwar gibt es zwei Faktoren, die nicht wenige am Inn eher an einen Sieg des einstigen ÖVP-Vizestadtchefs Anzengruber glauben lassen: Erstens, Innsbruck ist eine traditionell bürgerlich geprägte Stadt. Und zweitens: Willis sechsjährige Amtszeit war von politischem Zank, persönlichen Intrigen und Skandalen geprägt. Zahlreiche anvisierte Projekte wurden politisch blockiert und konnten somit nicht umgesetzt werden. Entsprechend groß war die Enttäuschung vieler Innsbruckerinnen und Innsbrucker über ihren Bürgermeister – auch unter jenen, die einst für Willi gestimmt hatten.

Dazu kam auch noch eine politische Affäre, die Willi selbst auslöste und die sogar die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) auf den Plan rief: Der Bürgermeister hatte seiner ehemaligen Personalamtschefin umstrittene Sonderverträge gewährt. Die Ermittlungen wurden bald danach eingestellt, ein Reputationsschaden in der Bevölkerung aber blieb.

Auch Anzengruber beschädigt

Allerdings: Auch Anzengruber wurde in seiner Amtszeit von einer politischen Affäre eingeholt. Er hatte eine Verschenkaktion von mehreren Tausend Ermäßigungskarten an diverse Organisationen vermittelt. Mit dem Unternehmen, das die Karten vertrieb, hatte sein Ressort in der Innsbrucker Stadtregierung aber zuvor schon mehrfach zusammengearbeitet. Auch hier ermittelt die WKStA – wegen Verdachts der Vorteilszuwendung und Vorteilsannahme. Anzengruber bestreitet die Vorwürfe, ein Ergebnis steht noch aus. Und: Auch Anzengruber selbst war als bis Ende 2023 amtierender Vizebürgermeister nicht ganz unerheblich an der wenig erfolgreichen Innsbrucker Stadtregierung beteiligt.

Für die Entscheidung in der Stichwahl wird es also – wie so oft – zentral auf die Mobilisierungsfähigkeiten der beiden Kandidaten ankommen. Der erste Wahldurchgang vor knapp zwei Wochen zeigte nämlich eine Art Pattstellung zwischen Kandidatinnen und Kandidaten links und rechts der Mitte – auf beide entfiel ein ähnlicher Anteil an Stimmen.

Politische Farbenlehre

Der politischen Weltanschauungs- und Farbenlehre nach darf zwar als wahrscheinlicher gelten, dass Wählerinnen und Wähler, die im ersten Wahlgang für SPÖ-Kandidatin Elisabeth Mayr stimmten (15,2 Prozent), ihr Kreuzerl am Sonntag beim Grünen Willi und nicht bei Ex-ÖVPler Anzengruber machen. Ebenso dürften bisherige Wähler des Blauen Lassenberger (15,9 Prozent) in der Stichwahl eher zum Mitte-rechts-Kandidaten Anzengruber als zu seinem Mitte-links-Pendant Willi neigen. Aber: Die große Unbekannte ist die Wahlbeteiligung. Heißt: Wie viele der bisherigen Rot- oder Blauwähler am Sonntag überhaupt wählen gehen, ist nicht prognostizierbar. Und das macht Einschätzungen zum möglichen Wahlsieger schwierig.

"Für Anzengruber sprechen sicher die Wahlempfehlungen", sagt die Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle im Gespräch mit dem STANDARD. Denn der im ersten Wahlgang nur fünftplatzierte ÖVP-Kandidat Florian Tursky, in Innsbruck mit seiner Liste unter dem offiziellen Namen "Das neue Innsbruck" an den Start gegangen, gab bereits ebenso eine Wahlempfehlung für Anzengruber ab wie die FPÖ. Weil Parteizugehörigkeiten heutzutage aber eine viel geringere Rolle spielen als noch vor wenigen Jahrzehnten, sollte dieser Faktor laut der Politologin nicht überbewertet werden. "Diese Zeiten sind im Wesentlichen vorbei."

Wissenschaft und Ratespiele

Klar ist dagegen: Für die Grünen wäre nicht Anzengruber, sondern der Freiheitliche Lassenberger der Wunschkandidat für eine Stichwahl gewesen. "Da hätte man mit der Verhinderung eines blauen Bürgermeisters neben SPÖ-Wählern auch ein breiteres bürgerliches Lager stark mobilisieren können", sagt Stainer-Hämmerle.

Auch für Politikwissenschafter Peter Filzmaier macht die – auch atmosphärisch – geringere Trennschärfe zwischen den Linien der beiden Kandidaten Prognosen noch deutlich schwieriger, als sie bei einer polarisierteren Stichwahl gewesen wären. Und er gießt das Dilemma im STANDARD-Gespräch in eine Zahl: "Für acht von zehn Innsbruckerinnen und Innsbrucker – Nichtwähler eingerechnet – war vor zwei Wochen weder Willi noch Anzengruber der Kandidat, für den sie stimmten." Anders gesagt: Jede Zuschreibung einer Favoritenrolle wäre aus wissenschaftlicher Sicht unseriös. "Aber wenn man raten will", sagt Filzmaier, "stehen die Chancen immerhin bei 50/50." (Martin Tschiderer, 26.4.2024)