"Nationaler Notstand", eine "alarmierende Todesrate" und eine Epidemie im Ausmaß von Ebola oder Corona. Spät, aber doch fand Sierra Leones Präsident Julius Maada Bio Anfang April überdeutliche Worte für die aktuell grassierende Drogenkrise in seinem Land. Und tatsächlich, die Videos in den sozialen Medien und die Zahlen, die kursieren, sind erschreckend. Belastbare Daten gibt es kaum, aber medizinisches Personal geht davon aus, dass im Hauptstadtgebiet teils mehr als jeder zweite junge Mann abhängig von Kush ist.

Aber auch "Volksschulkinder, Mütter und ältere Menschen würden die Droge konsumieren", sagt die freie Journalistin und Filmemacherin Sira Thierij, die soeben eine Doku zum Thema veröffentlichte, im Gespräch mit dem STANDARD: "An Kush zu kommen ist teilweise leichter als an ein ordentliches Mittagessen."

Dass die Droge Kush landläufig als "Zombie-Droge" bekannt ist, trägt nun jedenfalls dazu bei, internationale Aufmerksamkeit für ein dringliches Gesundheitsproblem zu generieren. Der Zombie-Vergleich drängt sich aus zweierlei Hinsicht auf. Einerseits kursieren in den sozialen Medien Videos von jungen Männern, die schlaftrunken, oft wie ferngesteuert durch die Straßen Sierra Leones wandern, die allerorts einschlafen, die ihren Kopf gegen Eisenstangen hämmern oder berauscht in den Verkehr hineinlaufen. Anderseits halten sich hartnäckige Gerüchte, dass der Abrieb von Knochen toter Menschen der Droge beigemischt sein soll und letztlich gar für das spezielle High verantwortlich sein soll.

Beweise hierfür ließen sich bisher keine finden. Auch Thierij fand keine, hörte nur immer wieder dieselben Gerüchte. Die BBC schrieb noch vor wenigen Wochen davon, dass die Sicherheit rund um Friedhöfe aus Angst vor Grabplünderern erhöht wurde. Laut Medizinern würde jedenfalls weder der oft kolportierte Schwefelgehalt der Knochen aus biologischer Sicht Sinn als Bestandteil der Droge machen noch der Glaube, dass sogenannte Heavy User anderer Drogen noch Rückstände davon in ihren Knochen aufweisen würden. Doch die Gerüchte halten sich hartnäckig, und es ist nicht auszuschließen, dass sie einen wahren Kern haben.

Drogenmix in ganz Afrika

Über die anderen Zutaten des stark süchtigmachenden Kush weiß man etwas mehr. Zwar kommt die Droge je nach Produzent in den unterschiedlichsten Zusammensetzungen daher, aber dem Grundstoff Cannabis werden meist Opioide wie Tramadol oder Fentanyl und Lösungsmittel wie Aceton oder Formalin beigemengt – Letzteres wiederum wird bei der Konservierung von Leichen eingesetzt.

Ganz generell lässt sich in Afrika jedoch beobachten, dass verschiedene Drogen immer öfter gemischt und zu "neuen" Drogen zusammengesetzt werden. Die synthetische Droge Kush reiht sich damit in eine Reihe anderer grassierender Drogenepidemien am Kontinent ein. Whoonga beziehungsweise Nyaope, ein auf Heroin basierendes Rauschmittel, gemischt mit Cannabis und Tabak und gestreckt mit allem von Rattengift über Waschpulver bis Crystal Meth, verbreitet sich derzeit in Südafrika – ebenso White Pipe, eine Mischung aus den Rauschmitteln Methaqualon und Cannabis.

Kush Sierra Leone
Ein Mann in Sierra Leone rollt sich eine Kush-Tschick.
AFP/JOHN WESSELS

Während das Cannabis in Sierra Leone mittlerweile meist selbst angebaut werden dürfte, sollen die restlichen Zutaten für das Kush vor allem auf illegale Weise aus dem asiatischen Raum kommen, das Fentanyl etwa aus China. Der Straßenpreis von nur rund 25 Cent pro Joint scheint auf den ersten Blick besonders erschwinglich, ist er doch deutlicher günstiger als ein Apfel auf dem Markt. Bei einem Jahreseinkommen von nicht einmal 500 Euro und teils mehr als drei Dutzend Joints täglich, stürzen viele Schwerstabhängige jedoch schnell in die Kriminalität oder die Prostitution, um sich das nächste High leisten zu können.

In Thierijs Doku berichten junge Männer, wie sie die eigene Familie bestehlen, um ihre Abhängigkeit zu finanzieren. Die Geschichte des Landes, mit dem Bürgerkrieg und vielen nicht therapierten psychischen Spätfolgen aus dem Konflikt, würden den aktuellen Konsum bestimmt nochmals befeuern, sagt Thierij.

Kaum staatliche Hilfe, nur Freiwillige

In der bitterarmen westafrikanischen 7,5-Millionen-Einwohner-Republik ist das staatliche Gesundheitsnetz absolut unzureichend auf eine derartige Drogenkrise vorbereitet. Auf die abertausenden Abhängigen kommen gerade einmal fünf Psychiater, die beim Entzug helfen könnten. Um die mentale Gesundheit wird sich, wenn überhaupt, medizinisch nur in der Hauptstadt gekümmert. "Man fängt tatsächlich bei null an", sagt Thierij.

Vielfach müssten die Menschen erst einmal aufgeklärt werden, was eine Sucht ist, womit diese einhergehe und weshalb diese nicht so leicht abzustellen sei, erklärt Thierij. Ein Job, der mangels staatlicher Hilfe vor allem von Freiwilligen ausgeübt wird, sagt sie. Medienberichte würden schnell dramatisieren und Hilflosigkeit suggerieren. Irgendwie schaffen es die Menschen vor Ort dann aber doch immer wieder, sich selbst zu helfen, erzählt die im Senegal lebende Journalistin.

Anti-Drogen-Kampf Kush Sierra Leone
Einheiten zur Drogenbekämpfung verbrennen Kush.
AFP/SAIDU BAH

Die Drogenabhängigen, die Thierij für ihre Doku traf, seien fast durchwegs sehr gut ausgebildet und intelligent, hätten Uni-Abschlüsse, aber fänden eben keine Arbeit, sagt sie. Die Inflation sei mittlerweile so hoch, die Nahrung so teuer, dass viele die Essenszufuhr durch Kush substituieren würden. Problematisch sei nicht nur, dass in der Prioritätenliste vieler afrikanischer Staaten Drogensucht bisher nicht immer ganz weit oben stehen würde, erklärt Thierij.

Auch Hilfsorganisationen würden sich dem Thema bisher kaum widmen. Sahid Bangura, Freiwilliger im Kampf gegen die Sucht und Protagonist der Doku, habe sich bisher vergeblich um Förderungen bemüht. Und so steckt er weiterhin sein privates Geld in den Kampf gegen die Drogen. Immerhin will nun aber der Staat rigoroser vorgehen. Die staatliche Einheit zur Drogenbekämpfung verbrannte zuletzt mehrere Ladungen Kush. (Fabian Sommavilla, 26.4.2024)