Der Ort muss für die Menschen seit Urzeiten eine besondere Anziehungskraft entfaltet haben, auch über kulturelle Grenzen hinweg. Wo heute der Besucherparkplatz von Stonehenge liegt, grub man schon während der Mittelsteinzeit vor 11.000 Jahren Löcher in den Boden. 5000 Jahre alte Reste von Feuerbestattungen belegen, dass dieser Platz auf der Hochebene von Salisbury in Südengland sehr früh auch eine rituelle Bedeutung besaß. In welchen Handlungen und Zeremonien diese ihren Ausdruck fand, ist vielfach ungeklärt – aber möglicherweise spielte dabei auch der Mond eine Rolle.

Die ersten kreisrunden Erdwälle entstanden hier um 3000 vor Christus, das ergaben Radiokarbon-Analysen und andere Datierungsmethoden. In den folgenden Jahrhunderten wuchs Stonehenge zu einer im Erscheinungsbild immer wieder wechselnden Formation aus bearbeiteten Baumstämmen heran. In der unmittelbaren Nachbarschaft entstanden Hügelgräber, Prozessionswege, weitere Henges und große Siedlungen wie die Anlage Durrington Walls. Baumeister dieser frühen Monumente waren Bauern, die vor 6000 Jahren aus der Ägäis eingewandert waren und die Urbevölkerung aus Jägern und Sammlern verdrängt hatten.

Stonehenge im Mondschein
Spielte der Mond eine Rolle bei der Konstruktion des Megalithbauwerks während der Jungsteinzeit?
Foto: The English Heritage

Eine neue Kultur

Doch auch die Nachfahren der Bauern aus dem östlichen Mittelmeerraum sahen sich auf der Insel eines Tages Neuankömmlingen gegenüber: Etwa 2500 v. Chr. wanderten Menschen der sogenannten Glockenbecherkultur in England ein. Sie brachten die indogermanische Sprache aus den pontisch-kaspischen Steppen mit, von wo einst ihre Vorfahren aufgebrochen waren. Außerdem hatten sie wohl auch neue Fertigkeiten und kulturelle Gebräuche im Gepäck.

Etwa um diese Zeit jedenfalls wurde Stonehenge zu einer Konstruktion aus Stein. Die erste Felssetzung fand wahrscheinlich um 2400 v. Chr. statt, bis zur heute vertrauten "vollen Ausbaustufe" dauerte es weitere etwa 900 Jahre. Dass man all dies basierend auf Funden und Bodenuntersuchungen mit einer gewissen Autorität behaupten kann, ist eigentlich ein kleines Wunder. Denn das 4500 Jahre alte Steinmonument ist aus archäologischer Sicht ein besonderes Sorgenkind: Millionen Besucher verwischten in den vergangenen Jahrhunderten kostbare historische Spuren, die viel über den Ursprung und Verwendungszweck des Bauwerks verraten hätten.

Vielleicht ein Sonnenkalender

Doch allein die Anordnung der Felsen kann bereits entscheidende Hinweise liefern, worum es den Erbauern ging: Ursprünglich bestand der Steinkreis aus 45 übermannshohen Megalithen (sogenannte Sarsensteine), 58 kleineren Blausteinen und einigen weiteren markanten Felsen wie dem liegenden Altarstein in der Mitte und dem Fersenstein weit außerhalb des Kreises. Zumindest die Ausrichtung der riesigen Sarsensteine zur Sonnenwende hin hat schon sehr früh die Vermutung befeuert, die Stätte sei vielleicht ein am Sonnenstand orientierter Kalender.

Stonehenge in der Morgensonne
Die steinernen Riesen von Stonehenge stehen hier bereits seit über 4000 Jahren.
Foto: Thomas Bergmayr

Bei aller Bedeutung des Sonnenstands für das Leben und die Landwirtschaft, auch der Mond wird in der neolithischen Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt haben. Ein besonderer Aspekt dieser Beziehung könnte sich auch in der Architektur von Stonehenge widerspiegeln, vermuten britische Forschende: Einige Steine markieren offenbar Extrempositionen des Mondes am Nachthimmel, die nur sehr selten auftreten.

Stillstand des Mondes

Man nennt diese besondere Position Große Mondwende, und sie ist den Unregelmäßigkeiten im Mondumlauf zu verdanken: Der Mond kreist auf einer Bahn, die um fünf Grad gegen die Umlaufebende der Erde (Ekliptik) geneigt ist. Nachdem diese Umlaufbahn selbst rotiert, wandern auch die beiden Knotenpunkte, an denen der Mond auf die Ekliptik trifft. Von der Erde aus gesehen erreicht der Mond dadurch alle 18,6 Jahre seinen nördlichsten und südlichsten Punkt am Himmel und damit die Große Mondwende.

Die nächste derartige Mondwende soll im Jänner 2025 eintreten. Wissenschafter wollen die seltene Gelegenheit nutzen und beobachten, ob einige der Steine mit dem seltenen Mondstand korrespondieren. Die Frage, ob sich diese Mondzyklen im Aufbau von Stonehenge wiederfinden, wird schon länger diskutiert. Messungen haben ergeben, dass mindestens einer der vier sogenannten Stationssteine außerhalb des großen Megalithringes auf den südlichsten Mondaufgang während der Großen Mondwende ausgerichtet ist. Die Archäologen sind sich jedoch nicht sicher, welche Bedeutung dieses Merkmal haben könnte.

"Die Stationssteine sind zu den Extrempositionen des Mondes hin orientiert, und die Forscher haben jahrelang darüber gerätselt, ob dies absichtlich geschah, und wenn ja, wie dies erreicht wurde und was der Zweck gewesen sein könnte", meinte Clive Ruggles, emeritierter Professor für Archäoastronomie an der Universität Leicester.

Karte, schematische Darstellung von Stonehenge
Der Plan verdeutlicht eine mögliche Ausrichtung des Monuments nach der Sommer- beziehungsweise Wintersonnenwende. Die Stationssteine, die zusammen ein Rechteck bilden, könnten hingegen nach der Großen Mondwende hin ausgerichtet sein – so zumindest lautet eine Hypothese.
Grafik: English Heritage

Frühe Bestattungen

Möglicherweise gibt es noch ältere Hinweise auf diese spezielle lunare Beziehung: In der ganz frühen Phase, als das Monument noch aus Holz und Erdwällen bestand, bestatteten die Menschen verbrannte Überreste ihrer Toten innerhalb des Kreises. Wie sich zeigte, konzentrieren sich viele dieser Beisetzungen auf den Südosten der Anlage, und zwar dort, wo der Mond den südlichsten Stand erreicht.

Forschende vom Englisch Heritage, das für den Staat die Stätte verwaltet, wollen während des südlichsten Mondaufgangs im nächsten Jänner Stonehenge ihre besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit schenken. Geplant ist unter anderem ein Livestream, der den Mondaufgang überträgt. "Es wäre auch eine große Überraschung, hätten die Menschen damals keine Notiz vom Mond genommen", sagte Ruggles. "Die Menschen waren sich des Phasenzyklus des Mondes schon vor Zehntausenden von Jahren bewusst."

Licht und Schatten

Es sei daher durchaus plausibel, dass die Menschen um die Zeit einer Großen Mondwende herum bemerkten, dass der Mond ungewöhnlich weit nördlich oder südlich auf- oder unterging. Möglicherweise maßen sie diesen Beobachtungen auch eine besondere Bedeutung zu, so Ruggles. Diese Hypothese durch entsprechende Beobachtungen zu untermauern ist schwieriger, als man vielleicht meinen möchte.

"Es ist nicht einfach, die Extreme des Mondes zu verfolgen, da sie ein bestimmtes Timing und bestimmte Wetterbedingungen erfordern", sagte Amanda Chadburn, Archäologin von der Universität Oxford. "Aber wir hoffen, dass wir etwas darüber herausfinden, wie es damals war, diese besonderen Mondnächte zu erleben, und welche visuellen Veränderungen, etwa durch Licht- und Schattenmuster, bei den Steinen zu beobachten sind." (Thomas Bergmayr, 22.04.2024)