Wie groß ist die Gefahr durch Mediensucht wirklich?
APA/dpa/Tobias Hase

Man sieht sie überall: die "Smombies", Smartphone-Zombies, die unentwegt ins Handy starren, Blickkontakt meiden und alle sozialen Beziehungen über einen Bildschirm ausleben wollen. Was die flapsige Wortkreation verkennt, sind die gravierenden Probleme, die viele Menschen und vor allem Kinder und Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien bereits entwickelt haben. Jede:r fünfte Österreicher:in ist von einer Form der Mediensucht betroffen. Die großen fünf Suchtbereiche sind: soziale Medien, Computerspiele, Cyberpornografie, Kaufsucht, die sich immer mehr ins Internet verlagert, und Glücksspiel.

Oliver Scheibenbogen, Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Leiter der Ambulanz "Treffpunkt 1050" am Anton-Proksch-Institut in Wien, kennt diese Süchte. Im Interview erklärt er, wie das Smartphone unsere Hirnstruktur verändert, ADHS-ähnliche Symptome bei Kindern entstehen lässt und wieso wir eigentlich Schamanen der Digitalisierung bräuchten.

STANDARD: Wir sprechen ja hier von unterschiedlichen Phänomenen und Bereichen, aber was sind eindeutige Merkmale einer Mediensucht?

Scheibenbogen: So wie bei anderen Süchten gibt es die verschiedensten Kriterien. Einige davon müssen gleichzeitig und über einen längeren Zeitraum – in der Regel ein Jahr – erfüllt sein, damit man diese Diagnose stellen kann. Das Hauptkriterium ist letztlich der Kontrollverlust. Ich nehme mir vor, ein oder zwei Stunden am Handy zu sein, und daraus werden vier, sechs, acht Stunden. Das führt dann auch zum nächsten Kriterium, den negativen Konsequenzen. Wenn ich in der Realität Kontakte mit Freunden nicht mehr wahrnehme, schulisch Probleme bekomme, dann sind das negative Konsequenzen, die bei Fortbestehen ein deutliches Zeichen für die Entwicklung einer Abhängigkeit sind.

STANDARD: Von wie vielen Betroffenen sprechen wir in Österreich?

Scheibenbogen: Neue Studien gehen von 15 bis 20 Prozent aus, die ein intensives, wenn nicht exzessives Nutzungsverhalten haben. Mittlerweile haben wir allein beim Smartphone eine durchschnittliche Nutzungsdauer von dreieinhalb bis vier Stunden am Tag, Jugendliche noch mehr.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben Handy- und Mediensucht auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?

Scheibenbogen: Im Rahmen der Entwicklung lernen wir, mit anderen in Kontakt zu treten, das heißt, wir erlernen soziale Interaktion. Das funktioniert in der Realität gut, mit allen Sinnesreizen. Wie gibt man sich die Hand, wie sieht man sich in die Augen, welche Gerüche nimmt man wahr – da werden alle Sinne bedient. Das kann man über digitale Medien nicht so gut lernen. Wir wissen aus Studien, dass Jugendliche, die viele Facebook-Freunde haben, eher Probleme in der sozialen Interaktion haben, während Erwachsene, die genauso viele Facebook-Freunde haben, keine Probleme haben. Der Unterschied ist, dass sie die Interaktion erst einmal in der Realität kennengelernt haben und dann erst als "Add-on" im Digitalen.

STANDARD: Wir brauchen dieses Lernen der sozialen Begegnung in der Realität, sonst kriegen wir große Probleme?

Scheibenbogen: Dazu gibt es viele Studien, das fängt schon im Kleinkindalter an. Wenn eine Mutter ihr Kind stillt und dabei aufs Handy sieht, merkt sie nicht so schnell, ob das Kind richtig angelegt oder schon fertig mit dem Trinken ist. Diese Begegnung, die eine innige, tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind erzeugt, scheint irritiert zu werden. Ob das langfristig negative Auswirkungen hat, wissen wir noch nicht, weil die Studienlängsschnitte noch nicht so weit gehen.

Oliver Scheibenbogen
Oliver Scheibenbogen befasst sich schon seit Jahren mit den Verführungen und den Gefahren digitaler Medien.
Oliver Scheibenbogen

STANDARD: In einem Ö1-Interview vergangenes Jahr sagten Sie: "Unser Gehirn passt sich dem intensiven Nutzungsverhalten allmählich an, wir verändern uns im Sinne der Technik." Inwiefern verändert sich unser Gehirn durch das Smartphone?

Scheibenbogen: Man kennt das vom Klavierspielen. Jemand, der intensiv spielt, hat im motorischen Kortex eine wesentlich stärkere Repräsentanz der Finger. Je mehr Neuronen dort sind, desto differenzierter funktionieren die Bewegungen. Genau dasselbe sieht man beim Daumen, beim Wischen mittlerweile auch. Und das Ganze geht so weit, dass das Handy für viele Menschen schon zu einem neuen Körperteil geworden ist. Sie können es gar nicht mehr weglegen.

STANDARD: Es wird seit geraumer Zeit viel vor den Auswirkungen von Tiktok gewarnt. Welche Apps sind generell besonders problematisch für Kinder und Jugendliche?

Scheibenbogen: Bei allem, was sehr reizintensiv ist, wäre ich vorsichtig. Das sollte Kindern so spät wie möglich zugänglich gemacht werden. Dazu kommen unterschiedliche Phänomene, wie die ultrakurze Zeitspanne der Aufmerksamkeit bei Kurzvideos. An die gewöhnt man sich, was aber auch heißt, dass man eine Aufmerksamkeitsspanne dann oft nicht mehr über längere Zeit halten kann. Das geht so weit, dass sich ADHS-ähnliche Symptome entwickeln. Viele Kollegen haben mir erzählt, dass Eltern mit Kindern in die Praxis kommen wegen eines ADHS-Verdachts. Diese haben aber oft kein ADHS, sondern sind hyperaktiv, weil sie so viel am Handy sind. Dabei ist die Aktivierung des Nervensystems, das Arousal, so hoch, dass man Konzentrationsprobleme bekommt. Ob das bleibt und sich ein ernstes Problem daraus entwickelt, weiß man noch nicht.

STANDARD: Das sinnerfassende Lesen von einem Bildschirm ist schwieriger als von Papier. Wie bewerten Sie dahingehend die Digitalisierungsoffensive an den österreichischen Schulen?

Scheibenbogen: Das ist ein gutes Beispiel um aufzuzeigen, wie differenziert man das Thema angehen muss. Es gibt Studien zum Lernen von Mathematik vom Tablet. Wird das Tablet eine Stunde in der Woche genutzt, so steigt die Matheleistung um ein paar Pisa-Punkte an. Nutzt man es eine zweite Stunde pro Woche, so stagniert die Leistung, und nutzt man es drei Stunden, sinkt sie schon wieder. Wir müssen sehr behutsam mit diesen Geräten umgehen und uns fragen: Wo können wir sie sinnvoll einsetzen? Auch das Verdammen bringt nichts.

STANDARD: Seit dem Schuljahr 2022/23 gibt es den Pflichtgegenstand "Digitale Grundbildung" in der fünften bis achten Schulstufe. Mit einer Jahreswochenstunde, also insgesamt vier in der Unterstufe, soll der Umgang mit neuen Medien gelernt werden, auch Programmieren steht im Lehrplan. Finden Sie das ausreichend?

Scheibenbogen: Meiner Meinung nach sollte der Unterricht eher in Richtung Ethik und Psychologie gehen und weniger in den technischen Bereich. Man muss sich auch selbst kennenlernen, um die Mediennutzung kontrollieren zu können. Natürlich ist es gut, wenn man programmieren lernt, aber das hat eher etwas mit Logik zu tun als damit, auf sich selbst aufpassen zu können, sich das Handy so herzurichten und es so zu nutzen, dass es einen nicht überfährt mit all den Reizen. Auch die Gefahren, die damit einhergehen, muss man kennen. Wir bräuchten eine intensive Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Frage, wann man das Handy benutzen kann und soll, in welchen Situationen. Beim Autofahren wurde es verboten, aktuell haben wir den gesellschaftlichen Diskurs bezüglich Handys an Schulen. Die Gesellschaft beginnt, mit all den Möglichkeiten, die die Technologie bietet, Regeln zu finden, um vernünftig damit umzugehen.

STANDARD: Sie meinten in früheren Medienauftritten, Restriktionen und Verbote seien keine Lösung.

Scheibenbogen: Ich arbeite seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Suchtbereich und war nie ein Freund von Restriktionen. Je mehr Restriktionen, desto mehr muss man kontrollieren. Außerdem finden sich immer Möglichkeiten, Verbote zu umgehen. Ich befürworte auch kein Handyverbot in den Schulen, ich denke vielmehr, wir müssen einen bewussten Umgang lernen. Gerade jüngere Kinder brauchen die Eltern oder älteren Geschwister, die sie sozusagen "guiden" und in diese Kompetenz einführen.

Ein Beispiel aus der Drogensucht: Im brasilianischen Regenwald gibt es viele psychoaktive Substanzen. Da passiert es aber kaum, dass jemand eine Psychose entwickelt oder süchtig wird. Warum? Weil es dort einen Schamanen gibt. Das ist meistens der Älteste im Stamm, und er schaut darauf, wann was eingenommen wird und bei welchen Ritualen. Das heißt, das ist gut "geguided". Das Gleiche braucht es auch auf digitaler Seite. Deswegen sage ich Eltern immer: Seid dabei, interessiert euch für das, was die Kinder tun. Ihr müsst kein "Fortnite"-Experte werden, aber zumindest wissen, wie das funktioniert, wie man sich einloggt, wer welche Daten bekommt. Das halte ich für äußerst sinnvoll und wichtig. (Sarah Kleiner, Sara Rischanek, 23.4.2024)