Es war einmal ein Strand – einer der schönsten und wildesten Frankreichs, ein Paradies für Surfer und Badefreunde. Auf den vergilbten Fotos in der Brasserie La Côte d’Argent sieht man noch, wie Lacanau Plage vor 50 Jahren aussah. Damals war der Strand bei Ebbe mehrere Hundert Meter breit. Für die Familien unter Sonnenschirmen gab es endlos Platz. In der Brandung surften einsam die Wellenreiter, am Strandabhang tollten Kinder in den Betonbunkern aus dem Zweiten Weltkrieg herum.

Heute sind die Bunker versunken, der Abhang ist weg. Das Wasser habe ihn "gefressen", sagt in der Brasserie Hervé Cazenave. Der Zuständige für die Küstenpartie seiner Gemeinde kommt trotz des bissigen Regenwetters in kurzen Hosen zur Führung durch Lacanau Océan, wie der Ort heute heißt. "Lacanau Plage" trifft als Name heutzutage nicht mehr zu, da der Strand, "la plage", mit dem steigenden Meeresspiegel immer mehr schrumpft.

Hervé Cazenave, Mann in schwarzer Pulloverjacke sitzt vor blauem Haus
Hervé Cazenave: "Das Meer frisst den Strand auf."
Stefan Brändle

Cazenave zeigt auf die wuchtigen Stützen, auf denen das weit ins Meer vorgelagerte Restaurant Kajoc steht. Den Sand darunter frisst das Meer weg, ein bis zwei Meter im Jahr. "Und bei Stürmen wie 'Christine' im Jahr 2014 verliert die Küste bis zu zehn Meter", erzählt Cazenave, der hauptberuflich Swimmingpools wartet. Laut US-Weltraumbehörde Nasa ist der Meeresspiegel hier im Zeitraum von nur 20 Jahren um 9,3 Zentimeter gestiegen – genug, um das Kajoc zu unterhöhlen.

Im nasskalten Wind führt Cazenave über den topfebenen Sandstreifen, der jetzt, bei Flut, gerade mal 20 bis 30 Meter breit ist. Für Badende gibt es – wenn das Wetter passt – nur noch bei Ebbe genügend Platz, auch Surfer sind keine zu sehen. Dafür machen sich drei gelbe Bagger im Sand zu schaffen. Sie errichten am Abhang einen Wall aus Felsblöcken gegen die anrollenden Wellen. Oben auf der Esplanade sind die Cafés, Surfshops und Eisbuden mit wenigen Ausnahmen geschlossen. Für die Sommerzeit wird gerade eine später wieder abbaubare Holzterrasse erstellt. Er erteile nur noch provisorische Baubewilligungen, sagt Cazenave bestimmt. Die ganze Promenade wird nicht alt werden: 2030 könnte sie laut dem Gemeindevertreter seiner Ansicht nach wieder abgebaut werden.

Ins Landesinnere

2030: Dann will Lacanau Océan den Rückzug ins Hinterland antreten. "Relocalisation", nennt es Cazenave: Umsiedlung. Wenn der Wasserspiegel weiter steigt und der Wind den Strand so stark abträgt, dass auch die Felsbrocken unterspült werden – dann bleibt dem Ort keine andere Wahl mehr als der "strategische Rückzug" hinter die Dünen, meint der Küstenverantwortliche.

Was das konkret heißt? Beim Lacanau Surf Club zeigt Cazenave auf die vordersten Häuser mit Meersicht: "Mehrere Gebäudereihen und Straßenzüge sollen hier mit Zeithorizont 2050 verschwinden, um landeinwärts wieder aufgebaut zu werden." Der Lacanau Surf Club werde schon in diesem Jahr abgerissen. Hinter der Düne soll ein neues Surf- und Kite-Zentrum entstehen, weiter hinten eine Gewerbezone für die Produktion von Surf- und Stand-up-Paddling-Boards.

Die Studien sind erstellt, die Einwohner haben sich bei vielen Meetings von Cazenave informieren lassen. Bis dahin werden die Bagger jeden Winter Steinwälle konsolidieren oder neu errichten. Allein diese baulichen Schutzmaßnahmen verschlingen schon jetzt zwei Drittel des gesamten kommunalen Investitionsbudgets, sagt Cazenave. Das sei auf die Dauer nicht haltbar. Also bleibt nur die Umsiedlung als Ausweg.

Foto von Strand im Badeort Lacanau (Frankreich)
Das Meer kommt dem Badeort Lacanau immer näher.
Stefan Brändle

Wenn es nur so einfach wäre, ein ganzes Dorf ins Hinterland zu verfrachten! Die 6000 Einwohner von Lacanau, zu denen sich im Sommer bis zu 100.000 Feriengäste gesellen, sind allein schon von der Vorstellung daran überfordert. Die wenigen meist pensionierten Dauergäste sprechen auf der Strandpromenade ungern über die "Relocalisation" – vielleicht deshalb, weil ihnen das Thema die Endlichkeit ihres kleinen Paradieses vor Augen führt. Im pfeilergestützten Restaurant Kayoc wehrt eine Angestellte Fragen schroff ab: "Wir geben Journalisten keine Auskunft."

Freundlicher ist da schon Valérie Bru vom gleichnamigen Immobilienbüro, dem ältesten im Ort. Aber auch sie meint, die Übersiedlung werde von den Medien aufgebauscht. "Die Bodenpreise sind jedenfalls nicht gesunken. Im Gegenteil: Der Quadratmeterpreis für eine Ferienwohnung liegt nach der Covid-Flaute wieder bei 5000 Euro."

Aurélie, eine junge Nordfranzösin, hat im letzten Jahr sogar eine kleine Ferienwohnung im Süden des Ortes gekauft und hübsch renoviert. Etwa 100 Meter von der Wasserlinie entfernt. In einem halben Jahrhundert würde der Atlantik die Residenz Bleue Marine erreichen. Und dann? Aurélie zögert, dann sagt sie, sie denke nicht so weit.

Enteignung – und was dann?

60 Kilometer nördlich von Lacanau gibt es bereits einen Präzedenzfall. In Soulac-sur-Mer musste ein fünfstöckiger Wohnblock direkt am Strand Anfang 2023 abgerissen werden. Wegen der Erosion waren Risse im Mauerwerk entstanden. Der Staat enteignete die Besitzer der 74 Ferienwohnungen, nach langen Verhandlungen erhielten sie 70 Prozent des früheren Wohnwertes.

In Lacanau ist nicht nur ein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzes Strandviertel mit 1500 Häusern und Wohnungen bedroht. Und dieser hier ist nur einer von 126 erosionsgefährdeten Orten an der 200 Kilometer langen Atlantikküste Südwestfrankreichs. Das geht ins Geld. Allein in Lacanau würden sich die Entschädigungsansprüche auf 500 Millionen Euro belaufen. Für Cazenave ist klar: Die Region, der Staat und die EU müssten den größten Teil übernehmen. Vereinbart ist aber nichts.

Strand mit Steinwällen und Bagger
Letztlich sinnlose Versuche, das Meer per Bagger und Felsbrocken aufzuhalten.
Stefan Brändle

Der regionale Umweltverein Vive la Forêt sieht darin den Beweis, dass die Bewohner von Lacanau buchstäblich nasse Füße kriegen: "Jetzt, wo die Leute sehen, welche Kosten und konkreten Konsequenzen anfallen, wollen sie nicht mehr umziehen", sagt Vereinspräsident Patrick Point. Dabei gebe es langfristig gar keine Alternative zum Rückzug hinter die Dünen: "Seit den 1970er-Jahren hat Lacanau über die Strand- und Dünenlinie hinaus ins Meer gebaut und dabei viele Bausünden begangen. Immer mehr Felsblöcke aufzuhäufen – das bringt nichts", meint der zum Naturschützer mutierte Ökonom. "Das Meer ist immer stärker."

Und der springende Punkt, die Entschädigung der umgesiedelten Eigentümer? Point verweist auf das von Staatspräsident Emmanuel Macron 2021 erlassene Gesetz mit dem dramatischen Namen "Klima und Widerstandskraft". Es sieht einen Mechanismus vor: Der Wert eines erosionsbedrohten Hauses sinke über 30 Jahre kontinuierlich bis auf null. Wer zuwarte mit dem Verkauf, müsse später mit einem niedrigeren Enteignungsbetrag rechnen.

Bloß denke niemand an das Gesetz, sagt Point: "Man tut, als gäbe es den Mechanismus nicht, damit der Immobilienwert konstant bleibt. Damit würde aber letztlich die ganze Umsiedlung aufgeschoben." Fast scheint es, als werde den Einwohnern eben erst bewusst, was auf sie zukommt – und wie stark die Klimaerwärmung ihren Alltag beeinflussen wird. (Stefan Brändle, 26.4.2024)