"Verräter", "Diktator", "Verbrecher" – das sind noch die harmlosesten Bezeichnungen, die die Demonstranten für den alten und wohl auch neuen spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez finden. Sie gehen seit mehr als einer Woche gegen die Amnestie für die Unabhängigkeitspolitiker und -aktivisten aus Katalonien, die das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 organisierten, auf die Straße.

Demo gegen Pedro Sánchez
Seit mehr als einer Woche halten die Proteste gegen die Amnestiepläne von Pedro Sánchez an.
EPA/DANIEL GONZALES

Am Sonntag bildeten Kundgebungen in den 52 Provinzhauptstädten Spaniens gegen die Straffreiheit den vorläufigen Höhepunkt dieser Bewegung. Dazu aufgerufen hatte der konservative Partido Popular (PP). Gekommen waren Hunderttausende, darunter auch die Anhänger der rechtsextremen Partei Vox, Koalitionspartner des PP in weit über 100 Städten und Gemeinden sowie in fünf autonomen Regionen – vergleichbar mit einem Bundesland.

"Spanien wird einen Regierungschef haben, der seine Angelobung mit der Straflosigkeit seiner Partner erkauft hat", rief Parteichef Alberto Nuñez Feijóo auf der Kundgebung in Madrid. "Spanien steht nicht zum Verkauf!", antwortete die Menge. Der PP hatte in Madrid zur Puerta del Sol gerufen – dort, wo einst die Empörtenbewegung ihren Auftakt hatte. 30.000 Menschen fasst der Platz. Insgesamt 80.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen zählten die Behörden. "Eine Million" machte der PP zuerst aus, um dann auf 500.000 herunterzugehen. In ganz Spanien waren es laut Polizeiangaben 450.000, der PP will zwei Millionen gesehen haben.

Flaggen aus Franco-Diktatur

Die Demonstranten, die teilweise Fahnen aus der Zeit der 1975 zu Ende gegangenen Diktatur unter General Francisco Franco mit sich führten, werfen dem Sozialisten Sánchez vor, "Spanien zu zerstören", die "Spanier zu erniedrigen", das Land "für sieben Abgeordnetenstimmen an die Feinde Spaniens zu verkaufen".

Feijóo meinte gar apokalyptisch, Sánchez zerstöre "die Einheit des Vaterlandes". Die Amnestie öffne die Tür zu einem Referendum über die Selbstbestimmung. "Heute seit ihr hier, weil ihr Prinzipien habt und weil ihr nicht gewillt seit, dass sie sie euch nehmen", rief der PP-Chef und forderte den Rücktritt des "skrupellosen" Sánchez und sofortige Neuwahlen. Die Menge geht noch einen Schritt weiter und wünscht sich Sánchez sowie den verhassten, in Brüssel lebende Katalanen Carles Puigdemont hinter Gittern.

"Wir werden Schlag mit Schlag vergelten", drohte die Chefin der Regierung der Hauptstadtregion Madrid, Isabel Díaz Ayuso, unter Applaus. Wie auch Feijóo kündigte sie einen langanhaltenden Widerstand gegen die künftige Regierung an. Schon am kommenden Samstag mobilisieren Vereinigungen aus dem Umfeld der PP und Vox in ganz Spanien in Richtung Madrid – zwei Tage vor dem 20. November, dem Todestag von Diktator Franco, dessen ein Teil der Rechten bis heute Jahr für Jahr gedenkt.

Unruhen, Ausschreitungen

Bis dahin werden wohl die allabendlichen Proteste vor der Zentrale von Sánchez' PSOE in Madrid weitergehen. Dort mischen sich Vermummte Neo-Franquisten unter die Demonstranten. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen. Die Menge fordert dabei lautstark eine "nationale Erhebung", so wie 1936, als der spätere Diktator Franco gegen die demokratische Republik putschte und Spanien in einen mehrjährigen Bürgerkrieg führte.

PP und Vox machen alles mobil, was sie nur mobilmachen können. Konservative Richterverbände, Anwaltskammern, regionale Ärztevereinigungen, Steuerprüfer und Beamtenverbände reihen sich in den Chor der Amnestiegegner ein.

Die konservative Mehrheit im Obersten Gerichtsrat, der dank einer Blockade des PP im Parlament seit fünf Jahren nicht – wie in der Verfassung vorgeschrieben – erneuert wurde, spricht von einem "Angriff auf den Rechtsstaat" und bittet die EU um Hilfe.

Natürlich dürfen auch die rechten Berufsverbände der Polizei und der paramilitärischen Guardia Civil nicht fehlen. Die "Vereinigung pro Guardia Civil", die vor allem in der mittleren Führungsebene der Truppe Einfluss hat, veröffentlichte ein Kommuniqué. "Wir sind bereit, unser Blut bis zum letzten Tropfen für die Souveränität Spaniens und verfassungsmäßige Ordnung zu vergießen", heißt es darin. Das Innenministerium überwacht die Vereinigung seither. (Reiner Wandler aus Madrid, 13.11.2023)