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UÇK-Kämpfer, hier am 16. August 1998 vor dem Dorf Glodjane, 65 Kilometer westlich von Prishtina. So sahen sie sich auch selbst gerne: als aufrechte Soldaten im Kampf gegen die Serben. Die Kriegsverbrechen, die dabei begangen wurden, werden nur langsam aufgearbeitet.

Staton R. Winter / EPA / picture

US-Richter Schwendiman: "Große Herausforderung".

Halil öffnete die Metalltür und legte seine rechte Hand instinktiv auf die österreichische Glock-Pistole, die in einem Halfter an seinem Gürtel steckte. Eine Kamera überwachte den Eingang des Hauses, das etwas abseits der Straße lag. Die Vorsichtsmaßnahmen waren zu einem Ritual geworden.

Siebzehn Jahre seien vergangen, erzählte Halil (Name der Redaktion bekannt), seit er in einem geheimen Gefangenenlager in den Bergen Nordalbaniens von kosovo-albanischen Freischärlern festgehalten und gefoltert worden war. Halils Vergehen hatte darin bestanden, dass er, ein Kosovo-Albaner, die Gegner der Freischärler im Machtkampf nach dem Krieg unterstützt hatte.

Er rechnet damit, in ein paar Monaten gegen seine Peiniger auszusagen – im Zuge eines Versuchs, Licht auf die dunklere Seite des Freiheitskampfes des Kosovo gegen die serbische Unterdrückung zu werfen, eines Kampfes, der 1999 die maßgebliche Unterstützung der Nato-Bomber erhielt.

Zeugnis ablegen

Ein neu geschaffenes Gericht mit Sitz in den Niederlanden soll in den nächsten Wochen oder Monaten die ersten Anklagen erheben. Der Erfolg dieses Gerichts wird von Halil und anderen Kosovo-Albanern abhängen, die bereit sind, gegen politisch einflussreiche ehemalige Freischärler, die unter ihresgleichen oft als Helden gefeiert werden, auszusagen. Es steht viel auf dem Spiel – sowohl für die Stabilität des Kosovo und seine Konsolidierung als unabhängiger Staat als auch für die Zeugen, die sich gemeldet haben.

"Sie haben uns gefoltert und getötet", so Halil. "Ich lebe, um Zeugnis abzulegen."

Das von der EU finanzierte Gericht will keine näheren Angaben dazu machen, welche Maßnahmen gesetzt werden, um die Sicherheit der Zeugen zu gewährleisten. Vonseiten der EU weist man lediglich darauf hin, dass daran gearbeitet werde und man darauf achte, "entsprechende Maßnahmen zu setzen, um die Zeugen vor, während und nach dem Prozess zu schützen".

US-Ermittler Clint Williamson, dessen Ermittlungsverfahren die Grundlage für das Gericht schuf, warnte 2014 vor "anhaltenden" Bestrebungen, seine Arbeit durch Einflussnahme auf Zeugen zu untergraben. Anklagen würden jedoch folgen, meinte er.

Angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit und des Mangels an belastendem Material werden die Ankläger in erster Linie auf Augenzeugen angewiesen sein. Viele befinden sich offenbar bereits außerhalb des Kosovo, einige haben vermutlich neue Identitäten erhalten. Aber andere, wie Halil, weigern sich zu gehen.

"Es ist schwierig, sich im Kosovo zu verstecken", erklärte Robert Dean, der ehemalige Sonderstaatsanwalt der UN-Mission, die nach dem Krieg 1998/99 die Verwaltung des Kosovo übernahm. "Andererseits glaube ich nicht, dass man der Fortsetzung dieses Gerichts zustimmen würde, wenn es keinen Zeugenschutz gäbe", räumte er ein.

Das neue Gericht – bekannt als Specialist Chambers and Specialist Prosecutor's Office – wurde eingerichtet, um ehemaligen Mitgliedern der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), die hinter einer, wie Williamson es nennt, "Verfolgungskampagne" gegen Serben und Roma nach dem Kosovokrieg 1998/99 stehen, den Prozess zu machen. Auch die "außergerichtlichen Tötungen, das illegale Festhalten und die unmenschlichen Behandlungen" von Kosovo-Albanern, die als politische Gegner galten, sollten zur Anklage gebracht werden.

Williamson wurde von der EU eingesetzt, um die in einem 2010 veröffentlichten Bericht des Europaratsermittlers Dick Marty erhobenen Anschuldigungen gegen die ehemaligen Rebellen zu überprüfen. Der UÇK wurde darin auch vorgeworfen, serbischen Häftlingen in Nordalbanien Organe entnommen zu haben, um diese im Ausland zu verkaufen.

Die EU kündigte die Einrichtung eines Sondergerichts an. Nach langem Hin und Her stimmte der Kosovo diesem Schritt in einer Parlamentsabstimmung im August 2015 zu. Im Juni 2016 genehmigte der Europäische Rat ein Budget von 29,1 Millionen Euro für die Einrichtung und den Betrieb des neuen Kosovo-Gerichts bis Juni 2017.

Bereits zwei Mal hat Halil als Zeuge in lokalen, von der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (Eulex Kosovo) angestrengten Prozessen gegen Ex-Rebellen ausgesagt. Die EU-Mission befasst sich seit der Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien 2008 mit der Verfolgung von heiklen Kriegsverbrechen und Korruptionsfällen im Kosovo.

"Sie versprachen uns, dass wir unerkannt bleiben würden", sagte Halil und bezog sich dabei auf die europäischen Ankläger während der ersten Prozesse. "Aber ich denke, sie (die Ex-UÇK-Kämpfer, Anm.) kennen uns nur zu gut." Man habe ihm eine Umsiedelung ins Ausland angeboten, er habe aber abgelehnt. "Ich bin nicht jung. Ich habe Kinder, die mit ihren Familien hier leben. Wir sind eine große Familie und können nicht alle wegziehen", meinte er.

Halils Familie geriet aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Partei von Ibrahim Rugova ins Visier der UÇK. Rugova leistete zehn Jahre lang passiven Widerstand gegen die serbische Dominanz, wurde jedoch in den späten 1990ern von den Rebellenkämpfern in den Hintergrund gedrängt.

Politische Attentate, Gefangenenlager und eine Welle von Vergeltungsschlägen auf Serben und Roma nach dem Krieg verliehen dem Rebellenaufstand einen negativen Beigeschmack, der die Unterstützung der westlichen Mächte gewonnen hatte, um mit vereinten Kräften die Vertreibung von und das Massaker an kosovo-albanischen Zivilisten durch Truppen des verstorbenen serbischen Diktators Slobodan Milosevic zu stoppen.

Nach dem Krieg übernahmen die Rebellen die politische Macht. Die westlichen Unterstützer des Kosovo hätten sich mehrere Jahre lang davor gescheut, diese im Interesse der Stabilität zur Verantwortung zu ziehen, bemängeln Kritiker.

Aussage gilt als Verrat

Erst kürzlich wurde eine Reihe von Rebellen im Kosovo im Zuge einiger Gerichtsverfahren verurteilt. Der Prozess wird jedoch seit langem durch den engen Zusammenhalt von 1,8 Millionen Menschen im Kosovo erschwert, wo Zeugenaussagen gegen UÇK-Kämpfer von vielen als Verrat diffamiert werden.

In einem Land, das nicht einmal halb so groß ist wie Wales, beherrschen die ehemaligen Rebellen Politik und Sicherheitsstrukturen. Zeugen gegen ehemalige UÇK-Kämpfer seien "bedroht und in wirklich ernster Gefahr", glaubt Natasa Kandic, Gründerin des Belgrader Zentrums für humanitäres Recht und unermüdliche Fürsprecherin von Opfern von Kriegsverbrechen im Kosovo und in anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien.

Sie sehe jedoch Anlass zu Optimismus. "Es gibt gewisse Erwartungen, dass es anders sein wird", meinte Kandic über das neue Gericht. Dessen Ermittlungsarbeiten seien "bis zum Schluss streng geheim" gewesen. "Niemandem ist es gelungen herauszufinden, wer auf der Anklagebank sitzt, wer die Angeklagten und wer die Zeugen sind."

Stefan Trechsel, ein Schweizer Richter, der am Prozess gegen Milosevic in Den Haag beteiligt war, sagt, es sei von zentraler Bedeutung, dass die Zeugenliste geheim bleibe: "Das ist zunächst einmal Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Sie werden vor Ort sein, sie werden mit vielen Leuten sprechen müssen, und sie müssen dies auf eine Weise tun, die keinen Aufschluss darüber zulässt, wen sie als Zeugen betrachten und wen sie nicht als Zeugen betrachten."

Im März 2011 interviewte die Autorin dieses Artikels Agim Zogaj, einen ehemaligen Aufseher eines UÇK-Gefangenenlagers, der in einem Prozess gegen zehn ehemalige UÇK-Kämpfer aussagen sollte. Zu diesen zählte auch Fatmir Limaj, ein ehemaliger Rebellenkommandant, Ex-Minister und später enger Vertrauter von Hashim Thaçi, dem amtierenden Präsidenten der Republik Kosovo.

Den zehn Angeklagten wurden 1999 in einem UÇK-Gefangenenlager im Dorf Klecka im Zentralkosovo begangene Kriegsverbrechen gegen Zivilisten und Kriegsgefangene zur Last gelegt.

Die Identität des Zeugen Agim Zogaj wurde von den europäischen Staatsanwälten geheim gehalten; bekannt war er nur als Zeuge X. Sechs Monate später fand man Zogaj erhängt an einem Baum in einem Park der westdeutschen Stadt Duisburg, einen Monat bevor der sogenannte Klecka-Prozess beginnen sollte. Laut den deutschen Behörden handelte es sich um Selbstmord, Zogajs Familie behauptet jedoch, er sei ermordet worden.

Zogaj berichtete damals, dass ihm Limaj nahestehende Personen 50.000 bis 60.000 Euro angeboten hätten, damit er nicht vor Gericht aussage. Ein andermal sei ihm eine monatliche Zahlung von 500 Euro angeboten worden. Man wies ihn an, ein Bankkonto auf den Namen seiner Frau zu eröffnen, was er auch tat.

Bekommen habe er nichts. Aber der Vater des Ehemannes seiner Tochter habe Druck auf ihn ausgeübt, sagte Zogaj. "Sie haben ihn als Handlanger benutzt", erzählte er. Sogar zu einem Treffen mit Limaj soll es gekommen sein.

Schwieriger Schutz

Zum Zeitpunkt des Interviews war Zogaj nicht sicher, ob er aussagen sollte. Auch war ihm nicht klar, inwieweit er unter dem Schutz der Eulex-Mission stand. Er überlegte, den Kosovo zu verlassen, hatte allerdings ein Angebot seitens Eulex abgelehnt, ihn nach Bulgarien zu übersiedeln.

"Weder unsere eigene Polizei noch Eulex können für mich garantieren. Gott allein steht mir bei", meinte er. "Ich hoffe, dass mein Blut das letzte ist, das vergossen wird."

Während seiner Zeit im Gefangenenlager hatte Zogaj Tagebuch geführt. Diese Notizen waren für die Anklage wesentlich. Nach seinem Tod jedoch erklärte das Gericht dieses Beweismittel für unzulässig und sprach Limaj und seine Mitangeklagten frei. Ende 2012 wurde der Entscheid über das Tagebuch aufgehoben und ein Wiederaufnahmeverfahren angeordnet. Im September 2013 wurden alle zehn Personen erneut freigesprochen. Der Richter erklärte Zogajs Aussagen für inkonsequent, widersprüchlich und "völlig unglaubwürdig".

Limaj, zu jener Zeit ein ranghohes Mitglied der regierenden Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) von Ministerpräsident Thaçi, war bereits 2005 vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag vom Vorwurf der Misshandlung, Folter und Mord an Serben und Albanern in einem anderen UÇK-Gefangenenlager freigesprochen worden. Isak Musliu, ein Mitangeklagter, war damals ebenfalls freigesprochen worden, während ein dritter Angeklagter, Haradin Bala, für schuldig befunden und zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde.

Helden in der Heimat

Limaj wurde in seiner Heimat wie ein Held empfangen, im Oktober 2016 jedoch erneut der Kriegsverbrechen in Zusammenhang mit dem Mord an zwei kosovo-albanischen Zivilisten 1998 angeklagt – dieses Mal von der Sonderstaatsanwaltschaft des Kosovo selbst. Angehörige eines der Opfer haben öffentlich gesagt, was sie über den Mord wussten. Seinem Anwalt zufolge seien die Vorwürfe haltlos. Der Prozess begann im Jänner dieses Jahres.

Eulex hat wiederholt abgelehnt, zu Zogajs Tod Stellung zu nehmen oder darüber Auskunft zu geben, ob er zum fraglichen Zeitpunkt unter ihrem Schutz stand. Eine Sprecherin lehnte es ab, über das Thema Zeugenschutz zu sprechen. "Die Mission kann über die Arbeitsweise oder Sicherheitsbelange in Bezug auf den Schutz ihrer Zeugen keine Auskunft geben", sagte die Sprecherin.

Sowohl Zogaj als auch Halil verkörpern die Herausforderungen des Zeugenschutzes im Kosovo, wo Identitäten selten geheim bleiben und die Verbindungen zu Familie und Heimat so stark sind, dass die strengen Auflagen eines umfassenden Zeugenschutzprogramms, das mitunter auch die Änderung der Identität erfordert, von den Betroffenen häufig als unzumutbar empfunden werden.

Man vermutet, dass viele Zeugen des neuen Gerichts den Kosovo bereits verlassen haben, entweder weil sie bereits emigriert sind oder im Hinblick auf die Gerichtsverfahren umgesiedelt wurden.

Allen steht die Möglichkeit offen, ihre Gesichter und Stimmen unkenntlich zu machen, wenn sie zur Aussage vorgeladen werden.

Weil die Angeklagten das Recht haben zu wissen, wer gegen sie aussagt, und mit ihrem Verteidiger ein Kreuzverhör vorzubereiten, ist völlige Anonymität jedoch ausgeschlossen. "Es ist unmöglich, dass Zeugen völlig anonym bleiben", sagt auch Frank Hopfel, ein österreichischer Richter, der auch am UN-Tribunal in Den Haag tätig war. "Wir können die Anonymität der Zeugen nicht garantieren; man kann nur ihr Gesicht und ihre Stimme in der Öffentlichkeit unkenntlich machen und schriftliche Zeugenaussagen zulassen."

Der Chefankläger des neuen Gerichts, der US-Amerikaner David Schwendiman, bezeichnet den Zeugenschutz als "große Herausforderung": "Diejenigen zu schützen, von denen wir glauben, dass sie gefährdet sind, oder die durch die Teilnahme an diesem Prozess angreifbar werden, ist absolut unerlässlich. Ich habe die Befugnis hierfür und die Zusicherung, dass man mich dabei unterstützen wird." Besonders am Herzen liege ihm die Beseitigung der rechtlichen Unklarheiten, die laut Expertenmeinung alle bisherigen Anstrengungen zunichtegemacht haben.

Dazu kommt noch, dass die zunächst von der UN-Mission Unmik und später von Eulex angestrengten lokalen Verfahren gegen Kriegsverbrecher damit zu kämpfen hatten, dass Zeugen eingeschüchtert wurden.

In einem Fall etwa wurde das Verfahren so zweigeteilt, dass eine Gruppe der mutmaßlichen Täter zuerst vor Gericht gestellt wurde und eine andere gleich danach. Die Zeugen waren dieselben. Sie wohnten während beider Prozesse weiter zu Hause, was ihre Gefährdung stark erhöhte.

In einem anderen Fall, unter Kontrolle der Eulex-Mission, berichtete ein geschützter Zeuge, dass seine Identität öffentlich gemacht worden sei – vom Angeklagten oder den Anwälten des Angeklagten, wie er glaubt. Man brachte ihn außer Landes. Verwandte, die im Kosovo blieben, seien jedoch Opfer von Einschüchterungsversuchen geworden. Ein Angehöriger trat schließlich in den Zeugenstand, um die Aussage des Mannes zu dementieren. "Ich tat es für jene, die am Leben sind", erzählte der Verwandte, der nicht namentlich genannt werden kann.

Der ehemalige Ankläger Dean, der zwischen 2005 und 2009 sowohl für Unmik als auch Eulex arbeitete, meint: "Die konsequente Anwendung des Rechts war ein großes Hindernis für alle."

Der österreichische Richter Frank Hopfel sagt, dass das neue Gericht der Regierung sehr deutlich machen müsse, dass "jegliche Beeinflussung der Rechtsprechung Sanktionen nach sich ziehen" würde.

Der Kosovo übernahm Ende 2014 die Verantwortung für Fälle von Kriegsverbrechen und ist gerade dabei, ein Zeugenschutzprogramm zu entwickeln. Vertrauen sei jedoch kaum da, meint Besim Kelmendi, ein Ankläger der Sonderstaatsanwaltschaft im Kosovo.

"Aufgrund des politischen und historischen Kontexts eines Landes, in dem man von jeher nicht an die Justiz glaubt, halten Zeugen nach wie vor nicht viel von den Gerichten im Kosovo", sagt Kelmendi, "beim Haager Tribunal gab es systematische Fehler beim Zeugenschutz."

Halil, der Zeuge, berichtet, die europäischen Ermittler hätten ihm gesagt, er solle sie anrufen, wenn er auch nur die geringsten Bedenken habe. "Ich lebe von einem Tag zum anderen", sagt er.

Im Tal sind Gewehrschüsse zu hören, vermutlich von einer Familienfeier. Halil sagt, er fühle sich zunehmend bedroht. "Ich fürchte um meine Familie, nicht um mich", behauptet er.

"Am liebsten würde ich sie tot sehen", sagt er über seine Peiniger. "Nur dann werden wir quitt sein." (Serbeze Haxhiaj aus Prishtina, 6.5.2017)