Mit Instinkt und Intuition entscheidet sich Isabelle Huppert für mutige Rollen wie in "Elle" – da macht sie in letzter Zeit nichts falsch.

Foto: Filmladen

Wien/Berlin – Über die Karriere von Isabelle Huppert werden die Historiker noch dicke Bücher schreiben. Der französische Star scheint es sich zunehmend stärker zur Aufgabe zu machen, prinzipiell und bis in die feinsten Nuancen des Intellekts und des Begehrens herauszufinden, was es heißen kann, eine moderne Frau zu sein. Da trifft es sich gut, dass ihr Vorname das weibliche Pronomen auch fast schon programmatisch enthält: elle. So heißt auch der Film, den Paul Verhoeven auf Grundlage eines Romans von Philippe Djian gemacht hat: eine radikale Gesellschaftskomödie, in der Huppert eine IT-Unternehmerin spielt, die sich der Gewalt schon deswegen nicht beugt, weil sie nur so herausfinden kann, was sie mit ihr macht.

STANDARD: Wer hatte die Idee, dass aus Philippe Djians Roman Oh... ein Film wie Elle werden könnte?

Huppert: Ich habe das Buch gleich gelesen, als es 2012 herauskam, und den Autor Philippe Djian dann auch getroffen. Er behauptete, er hätte beim Schreiben der Hauptfigur an mich gedacht. Vielleicht war das nur ein Kompliment, aber zumindest war es ein glaubwürdiges, denn ich konnte mit dieser Frau wirklich viel anfangen. Der Produzent hatte dann die geniale Idee, Paul Verhoeven zu fragen, ob er Regie führen wolle. Und Paul wiederum wollte den Film mit mir machen. Das war eine schöne Überraschung, und so schloss sich da fast ein Kreis. Schon das Buch ist sehr filmisch erzählt, offensichtlich steckte da eine große Möglichkeit für einen Film drin. Für Paul war es aber doch ein Schritt ins Unbekannte. Der Film ist sehr, sehr französisch, er vertritt jetzt sogar Frankreich bei den Oscars.

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STANDARD: Und Sie sind in der Kategorie "Beste Schauspielerin" nominiert. Was macht diese Rolle einer Frau namens Michèle, die in Paris ein fast schon programmatisch modernes Leben als Unternehmerin mit einem komplizierten Privatleben führt, so besonders?

Huppert: Michèle erlebt einfach sehr viel, alles türmt sich um sie herum auf. Der Film erscheint mir sehr realistisch, weil er vor allem zeigt, wie sie unentwegt reagieren muss. Alles ist unerwartet. Sie ist fast so etwas wie ein neuer Prototyp, sie leitet als Frau eine Firma in dieser Männerbastion der Welt der Videogames. Diese Idee kam von Paul, das ist so nicht im Buch, passt aber ganz wunderbar. Sie lebt in dieser Virtualität von Erotik und Gewalt, die dann aber für sie sehr konkret wird.

STANDARD: Die Figur im Buch wirkt versponnener. Haben Sie da andere Dimensionen hineingebracht?

Huppert: Ich habe mich zu Michèles Herausforderungen hingezogen gefühlt. Sie ist fast so etwas wie der Mann in der Geschichte, ein "pater familias". Viele Leute hängen von ihr ab, und sie ist mittendrin der "lonesome cowboy". Oder "cowgirl" natürlich. Elle lässt die Grenzen zwischen den Geschlechtern unscharf werden. Es ist auch ein Film über Männer, aber die Männer sind sinkende Sterne. Früher hatten sie Macht. Jetzt suchen sie nach ihrer Position. Unweigerlich ist dies auch ein Thema, bei dem die Erotik ins Spiel kommt. Wer hat die Macht? Wer übernimmt die Kontrolle?

STANDARD: Einer der herausragenden Momente von Michèle ist, wie sie mit einer Vergewaltigung umgeht – als würde sie das mit sich selbst ausmachen wollen. Fast schon wie eine Forscherin: Was geschieht da gerade mit mir?

Huppert: Sie wird vergewaltigt, und das heißt auch, die Distanz wird überwunden, die sie zwischen sich und dem Leben aufgerichtet hat. Sie lebt allein in diesem Haus, sie hat vielleicht Angst, den Menschen nahezukommen. Alles das wird aber im Film nicht überdeutlich betont, sondern immer mit einem ironischen Twist. Im Kern geht es sicher auch immer um ethische Standpunkte, aber die Tiefe der Geschichte wird mit Widerhaken versehen.

STANDARD: Diese Fähigkeit hat Paul Verhoeven immer schon ausgezeichnet. Er macht oft Filme, die nach Trash aussehen, in denen aber viel Reflexion steckt. Wie arbeitet er konkret?

Huppert: Paul ist ein Meister, wenn es um die Vermischung von Gutem und Bösem geht. Er lebt richtig in den Ambivalenzen. Er dreht viel, immer mit zwei Kameras, die leicht versetzt aufnehmen. Anfangs war das für mich ein wenig seltsam. Er ist in allem sehr präzise, fast schon obsessiv, nichts ist improvisiert, alles wird vorher durchdacht. Unsere Beziehung war so toll, weil er mich ganz in meiner eigenen Welt allein ließ. Ich wollte das alles mit mir selbst ausmachen. Wichtig war auch, dass das Drehbuch einmal den Umweg von Djians Buch über die US-Version nahm und dann wieder ins Französische übersetzt wurde. Da entstand wieder Raum für meine Arbeit als Schauspielerin.

STANDARD: Sie mögen also keinen Regisseur, der Ihnen alles genau erklärt?

Huppert: Niemals. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Jeder erschafft seine eigenen Überraschungen. Das ist es, was ich vom Kino verlange: die Essenz des Wirklichen einzufangen. Das ist alles. Gefühl, Sentimentalität, Psychologie – das alles lässt Elle hinter sich.

STANDARD: Sie haben zuletzt mit den Filmen Valley of Death, L'avenir – Alles was kommt und nun Elle fast so etwas wie eine Trilogie über heutige Frauen gemacht. Ergab sich das so?

Huppert: Das ist eine Sache von Instinkt und Intuition. Ich wollte mit diesen Leuten arbeiten, mit Guillaume Nicloux und mit Mia Hansen-Løve, und dann natürlich mit Paul. Auf unterschiedliche Weise geht es um denkende Frauen, um ein Überleben durch Intelligenz. Man leidet trotzdem, aber gerade die Philosophin in L'avenir sollte so leicht wie möglich sein, und – süß ist nicht das richtige Wort, aber in diese Richtung ging es. Fast so, als wäre das Denken etwas Sinnliches. Selbst ein Streit über ein Buch von Levinas kann auf diese Weise komisch werden.

STANDARD: In vielen Bereichen sieht es danach aus, als gerieten die Errungenschaften des Feminismus und der freien Gesellschaften wieder in Gefahr. Ist Elle auch ein Manifest dagegen?

Huppert: Film kann diese Aufgabe immer noch erfüllen, gegen Extremismen einzutreten und die Rückkehr zu scheinbar gültigen alten Werten zu hinterfragen. Aber wichtig ist dabei, dass es nicht nur um das Denken geht. Verstehen ist gar nicht die richtige Reaktion auf Elle. Man soll sich von ihm berühren lassen. (Bert Rebhandl, 23.2.2017)