Andrea Wulf
Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur

Aus dem Englischen von Hainer Kober
Verlag C. Bertelsmann 2016
556 Seiten, 25,70 Euro

Das "Ein-Mann-Unternehmen" Alexander von Humboldt in seiner Privatbibliothek. Andrea Wulf, seine jüngste Biografin, rekonstruiert das Leben und Werk des großen Naturforschers und erklärt ihn zum ersten Ökosystemforscher.

Illustration: Eduard Hildebrandt (1856), Uni Princeton

Alexander von Humboldt in grünem Kontext auf einem Gemälde aus dem Jahr 1806.

Illustration: Friedrich Georg Weitsch

Zwei Episoden aus Alexander von Humboldts Südamerikareise, die von 1799 bis 1804 dauerte, sind längst zu Mythen geronnen. In der einen gleitet er, von Mücken zerstochen, auf einem schmalen Boot tief in den geheimnisvoll-gefährlichen Regenwald hinein. Im trüben Wasser des Orinoko lauern Schlangen und Krokodile, das Boot droht zu sinken, so voll beladen ist es mit Instrumenten, Aufzeichnungen, Pflanzen und Käfigen mit exotischen Vögeln.

In der anderen kommt Humboldt bis knapp unterhalb des Gipfels des Chimborazo, der damals als der höchste Berg der Welt galt. Sein Körper ächzt unter der dünnen Höhenluft, die Glieder sind taub vor Kälte, aber der unbeirrbare Humboldt nimmt Bodenproben und notiert weiterhin Temperatur und Luftdruck.

Beide Episoden sind Schlüsselmomente sowohl im millionenfach verkauften Roman Die Vermessung der Welt (2005) von Daniel Kehlmann als auch in Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur von der englischen Kulturhistorikerin Andrea Wulf. Aber während der österreichische Schriftsteller den Humboldt'schen Wissensdrang gekonnt ironisiert, bleibt Andrea Wulf beim bewährten Heldennarrativ.

Material für einen Bestseller

Keine Frage, das abenteuerliche – und lange – Leben von Alexander von Humboldt (1769-1859) ist Bestsellermaterial. In die Kehlmannosphäre wird Andrea Wulf wohl nicht vorstoßen, aber es läuft gut. Letztes Jahr erschien ihre Humboldt-Biografie auf Englisch, heimste mehrere Sachbuchpreise und noch mehr Lobeshymnen ein. Mit so viel publizistischem Rückenwind folgt nun ein knappes Dutzend Übersetzungen, darunter auch auf Deutsch, der Muttersprache der schon lange in England lebenden Historikerin.

Hoch oben vom Chimborazo warf Humboldt als Erster einen ganzheitlichen Blick auf die Natur, so Wulfs zentrale (aber nicht neue) These. Sein umfassendes naturkundliches Wissen, aber vor allem seine eigene Anschauung ließ ihn die vielfachen Wechselbezüge im Naturgeschehen erkennen. Und wo alles mit allem wie "durch tausend Fäden" verbunden ist, bedrohen die Abholzung von Wäldern oder die Überfischung von Gewässern ganze Ökosysteme – einen Begriff, den Humboldt noch nicht kannte, aber doch schon genau beschrieb.

Andrea Wulf ist eine sehr gute Erzählerin. Sie schreibt gleichermaßen spannend wie lehrreich, mit einem Auge fürs interessante Detail aber auch für die große Linie. Auf mehr als 500 Seiten bettet sie Humboldts Lebensweg ins Zeitalter von Revolution und Restauration ein. Gerade auch die Zusammenhänge zwischen Naturforschung und Politik im frühen 19. Jahrhundert arbeitet sie anschaulich heraus. Einer der größten Bewunderer von Humboldt war Simón Bolívar, der gleichsam erst dank dessen faszinierender Reiseberichte die Schönheit seines eigenen Heimatkontinentes schätzen lernte – und so zum "Befreier" Südamerikas von der spanischen Krone wurde.

Multidisziplinäres Arbeitstier

Wulf zeigt eindrücklich die dichte internationale Vernetzung des Ein-Mann-Unternehmens Humboldt, der alle kennt, im Weißen Haus genauso gerne gesehen ist wie am preußischen Königshof, der junge Wissenschafter fördert, jedes Jahr Tausende von Briefe schreibt und noch viel mehr erhält. Er war ein multidisziplinäres Arbeitstier, der eine Unzahl an Informationen zu synthetisieren – aber nicht mit Geld umzugehen wusste, trotz üppigen Erbes und zahlreicher internationaler Bestseller wie "Kosmos".

Mit dem Ruhm kam die Eitelkeit. Humboldt war eine polyglotte Quasselstrippe, der seine Umgebung verlässlich zutextete, wenn er seine abendlichen Rundgänge durch die Salons von Paris und später Berlin machte. Zuhören war nicht seine Stärke, wie 1842 auch der junge Charles Darwin feststellen musste, als er bei einem mehrstündigen Treffen der beiden Geistesgrößen in London nicht zu Wort kam.

Wulf zählt zwar stolz auf, dass sie für das Studium entlegener Quellen die halbe Welt bereist hat. Dabei ist ihr aber auch die innere Distanz zu diesen abhandengekommen. Die Autorin übernimmt die Beschreibungen von Humboldts Person eins zu eins, ohne diese zu hinterfragen. Unersättliche Neugierde und Forscherdrang, gepaart mit fast übermenschlicher Leidensfähigkeit – all das sind aber Stilisierungen aus dem universalen Helden-Baukasten.

Wandlungen eines Helden

Wulfs Wälzer steht in einer langen Tradition der Humboldt-Biografik. Schon vor Jahren zeigte der Wissenschaftshistoriker Nicolaas Rupke in seiner "Metabiografie" Humboldts, dass wissenschaftliche Heroen "instabil" sind und ihre Bilder sich beständig wandeln. In den letzten 150 Jahren musste der wissenschaftliche Superstar zahllose Vereinnahmungsversuche über sich ergehen lassen, von deutsch-national über den "Lehrer des Volkes" und "guten Deutschen" bis hin zu postkolonial.

Dass Humboldt angesichts von anthropogenem Klimawandel und fortschreitender Umweltzerstörung nun als Vordenker der Ökologie rezipiert wird, wundert wenig. Den eigenen Zugang kritisch zu reflektieren hätte das absolut lesenswerte Buch von Andrea Wulf noch besser gemacht. Jeder Zeit ihren Humboldt. Gerade ist er grün. (Oliver Hochadel, 4.11.2016)