Sonnenbad mit Polizeischutz: Ein Gendarm patrouilliert auf dem Strand von Toulon. Nach dem Terroranschlag mit einem Lkw in Nizza wurde in ganz Frankreich aufgerüstet, bis Anfang 2017 gilt der Ausnahmezustand.

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Auch im mondänen Badeort Deauville, im Zentrum der Normandie, prägen die Maßnahmen der französischen Regierung gegen mögliche weitere Terrorattacken das Straßenbild. Am Beginn der Fußgängerzone liegen schwere Betonblöcke.

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Durchsage der Strandwache: Der Eigentümer der beigen Badetasche vor den Umkleidekabinen soll sich bitte umgehend beim nächsten Posten melden. Sonntag in Deauville, dem mondänen Badeort und Hausstrand der Pariser Aristokratie. Die Badetasche wurde abgeholt und musste von der Polizei nicht gesprengt werden. Die Angst vor einer Bombe ist aber selbst in der ungezwungenen Atmosphäre des riesigen Normandie-Strandes präsent.

Die Rue Eugène Colas, für den Markt zur Fußgängerzone gemacht, ist auf der einen Seite durch schwere Betonblöcke abgesichert, auf der anderen Seiten sperrt wie zufällig ein Lieferwagen der Stadtverwaltung die Zufahrt ab. Zufall ist es mitnichten: Der furchtbare Lastwagenanschlag vom 14. Juli in Nizza (84 Tote) soll sich hier am Ärmelkanal nicht wiederholen.

Ja, Frankreich lebt seit Monaten, Jahren mit dem Gefühl einer unfassbaren Gefahr: Die Reisesaison leidet nach unbestätigten Angaben unter einem Einbruch von rund fünf Prozent. Vor allem Ausländer bleiben aus; an der Côte d'Azur haben Chinesen, Amerikaner und Russen ihre Reisen en masse annulliert. Die Franzosen lassen sich die Ferien weniger vergällen, vielleicht auch, weil sie gelernt haben, dass "es" zwar überall passieren kann, die statistische Chance aber minimal ist.

Ins Herz getroffen

Auf jeden Fall zerren die seit anderthalb Jahren nicht mehr abreißenden Attentate an den Nerven der Nation. Die brutale Ermordung eines 86-jährigen Priesters im Normandie-Ort Saint-Étienne-du-Rouvray hat die Nation vor Wochenfrist erneut erschüttert. Erstmals war eine Kirche betroffen, und das in der tiefen Provinz, wo der Dorfpfarrer und Dorflehrer noch die zwei Pole des öffentlichen Lebens verkörpern. "La douce France", das sanfte Frankreich, ist im Herz getroffen.

Wer sich mit Franzosen heute unterhält, darf sich nicht wundern: Der einigende "Geist von Charlie" nach dem ersten Multiattentat (Pariser Polizeijargon) von Jänner 2015 ist verflogen; jetzt verlangen auch besonnene Bürger, dass die Polizei zur Sache geht. Mehr als vier Fünftel der Befragten sind laut Umfragen bereit, die Freiheitsrechte einzuschränken, um der Terrorabwehr mehr Mittel in die Hände zu geben. Nirgends regte sich hörbar Widerstand, als das Parlament Ende Juli den Ausnahmezustand auf nunmehr mehr als ein Jahr bis Anfang 2017 verlängerte.

Alle Franzosen sind für ein unzimperliches Vorgehen gegen Terrorverdächtige, konkret gegen jene mehreren Tausend Radikalislamisten in der sogenannten S-Kartei ("s" für "sûreté", Staatssicherheit). Die Polizei benützt ihr Recht, ohne richterliche Kontrolle Computer und Handys zu beschlagnahmen, Hausarrest zu verhängen oder Razzien vorzunehmen.

Nicht immer zielt sie ins Schwarze: Françoise und Pierre Caputo, zwei unbescholtene Bürger aus Nizza, beide über 80, schreckten im Juli um 6 Uhr in der Früh aus ihrem Bett hoch, als auf dem Flur jemand das Türschloss durchschoss und eine Gruppe vermummter Männer in die Wohnung stürmte. Es waren zum Glück nur Gendarmen, die sich in der Türe geirrt hatten. Sie grüßten, ohne sich zu entschuldigen, und drangen in die Nachbarwohnung ein, wo sie einen jungen Mann abführten.

Im Normalfall sind die Franzosen allerdings gar nicht betroffen von dem Ausnahmerecht. So war es schon im Algerienkrieg gewesen, als das Notrecht in die Verfassung eingeführt wurde, um in den drei algerischen Departements in Algerien durchgreifen zu können. Jetzt finden die Hausdurchsuchungen vor allem in Banlieue-Vierteln statt, die für viele Franzosen nicht näher liegen als Algerien.

Den Rechtsstaat schützen

Alles in allem hört man aber sehr selten von "bavures", polizeilichen Schnitzern. Dafür sorgt auch der sozialistische Innenminister Bernard Cazeneuve, der so buchstabengetreu wie ein guter Bürokrat vorgeht und erklärt: "Wir können nicht den Rechtsstaat verlassen, um den Rechtsstaat zu schützen."

Paris informierte den Europarat über die Aussetzung einzelner Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Folgen sind beschränkt, wenn man davon absieht, dass sich auch die Türkei zu einer ähnlichen Demarche bemüßigt fühlte. In Frankreich selbst spielen die republikanischen Regeln weiterhin. Grüne und Kommunisten wenden zwar mit Recht ein, die Regierung benütze das Notrecht auch, um missliebige Protestdemos, etwa gegen den umstrittenen Flughafen Notre-Dame-des-Landes bei Nantes, zu untersagen. Dazu bräuchte Cazeneuve aber keinen Ausnahmezustand.

Politologen sehen einen neuen Trend zur "illiberalen Demokratie". Auch das mag für die Türkei zutreffen, aber nicht für Frankreich. Schon deshalb, weil der Trend im unliberalen und staatsgläubigen Frankreich nicht neu ist: Dessen revolutionär-republikanische Geschichte kennt einige "Klammern" von Napoleon I. und III. über Vichy bis zur Kolonialzeit. Der Historiker Zeev Sternhell hält Frankreich wegen seines individualismusfeindlichen Staatswesens gar für die ideelle Wiege des Faschismus.

Gespanntes Verhältnis zur Demokratie

Dagegen ließe sich einwenden: Frankreich war schon für viele Ideen die Wiege. Gewiss hatte die Grande Nation schon immer ein gespanntes Verhältnis zur Demokratie, und die Franzosen wären heute mehr denn je bereit, sich in die Arme eines vermeintlichen "hommes de providence" (Mannes der Vorsehung) zu stürzen.

Im Oktober 2015, also noch vor den schweren Attentaten gegen das Bataclan-Lokal, wünschten in einer Umfrage 67 Prozent der Franzosen eine nicht gewählte Regierung aus Technokraten, um unpopuläre Reformen durchzuführen, und 40 Prozent wollten sogar eine "autoritäre Staatsführung".

Bei solchen Umfragen kommt es allerdings immer auf die Fragestellung an. Die Franzosen mögen demokratiemüde sein, und, was noch verständlicher ist, terrormüde. Aber sie bleiben überzeugte Republikaner. Sie denken letztlich konservativ und lieben, wie schon Friedrich Sieburg vor bald 100 Jahren schrieb, den "bon sens", der nicht nur den gesunden Menschenverstand meint, sondern auch das Maßhalten in allen Dingen. Frankreichs impulsives Temperament ist im Normalfall sehr pragmatisch, bisweilen opportunistisch. Darin mischt sich ein gelebtes Misstrauen gegen die Staats- und Polizeigewalt.

Kurz, die Demokratie ist in Paris derzeit nicht in Gefahr. Die Franzosen wollen keine weiteren Exzesse, keine Experimente und keinen "Krieg", wie die Terrorabwehr heute vielerorts genannt wird; sie wollen nur Ruhe von den Anschlägen. Das hat sogar die politische Brandstifterin Marine Le Pen erkannt: Sie macht auf ihren Plakaten Kampagne für "la France apaisée" (Frankreich im Frieden) und sagt, sie sei "kompromisslos" für den Rechtsstaat.

Zugleich vermengt sie die Terrorbekämpfung mit ihrer alten Forderung nach einem "Immigrationsstopp und Veto gegen die Flüchtlingsaufnahme". Diese geschickte, sehr demagogische Verquickung polizeilicher und politischer Maßnahmen hat Erfolg. Le Pen liegt weiterhin in allen Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 vorn – zumindest, was den ersten Wahlgang anbelangt. Nach jetzigem Stand dürfte sie keine Stimmenmehrheit für den Einzug in den Élysée-Palast erhalten.

Gefahr der Ansteckung

Doch das kann sich ändern. Und schon heute liegt die politische Gefahr darin, dass Le Pens Diskurs die anderen Parteien ansteckt, angefangen bei den konservativen Republikanern. Ihre Nummer eins, Nicolas Sarkozy, verlangt den "totalen Krieg" gegen die Islamisten, die Nummer zwei, Laurent Wauquiez, schiebt nach, man müsse "das Recht dem Krieg anpassen". Auch Präsident François Hollande, der verzweifelt um seine Wiederwahlkandidatur kämpft, vollzog nach dem Attentat von Nizza binnen 24 Stunden eine Kehrtwende und verlangte wieder die Fortsetzung des Ausnahmezustandes.

Dabei hat der eigentliche Wahlkampf noch nicht einmal begonnen. Die schätzungsweise fünf Millionen Muslime Frankreichs, die schon heute schief angeschaut werden, wenn sie Zug oder Metro fahren oder einen Rucksack tragen, befürchten das Schlimmste. "Niemand weiß, wie weit das Übel noch gehen kann", meint der Autor Éric Verhaeghe zur anhaltenden Terrorgefahr. "Bisher ist es nicht zum Phänomen ethnischer Repressalien gekommen. Aber man kann sich fragen, wie lange der scheinbare zivile Frieden noch halten wird."

Frankreich sträubt sich gegen die autoritäre Versuchung. Aber jedes Attentat lässt den Widerstand etwas mehr bröckeln. (Stefan Brändle, 21.8.2016)