Die Islamwissenschafterin und Autorin Lamya Kaddor, die selbst auch als Islamlehrerin arbeitet, ...

Foto: Andre Zelck

... glaubt, dass Islamunterricht präventiv wirken kann, indem er grundlegendes Wissen über die eigene Religion vermittelt. Zum Beispiel den Namen des einen Gottes, an den zu glauben sie vorgeben ... Das Foto entstand in der Nähe des Brunnenmarkts in Wien.

Robert Newald

STANDARD: Fünf Ihrer ehemaligen Schüler, die Sie seit 2003 im Rahmen des Schulversuchs "Islamkunde in deutscher Sprache" in einer Hauptschule im Stadtteil Dinslaken-Lohberg unterrichtet haben, sind als "heilige Krieger" in den "Jihad" nach Syrien gezogen. Was hat das für Sie bedeutet?

Kaddor: Das war für mich ein Schock, weil man ja so gar nicht damit rechnet. Allein die Vorstellung, dass ehemalige Schüler von einem in ein Land gehen, zu dem sie überhaupt keinen Bezug haben, und dort kämpfen, war auch für mich unvorstellbar.

STANDARD: Können Sie sich im Nachhinein erklären, warum es genau diese fünf waren?

Kaddor: Das sind vor allem soziale Ursachen – die Sehnsucht nach Anerkennung, nach Zuwendung, Zusammenhalt, Gemeinschaft, nach Aufwertung der eigenen Persönlichkeit, eigene Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren, eine neue, emotionale Heimat zu finden, die sie vorher nicht hatten. Bei vielen ist eine große Leere.

STANDARD: Diese Schüler lernten Islamkunde. Was kann konfessioneller Religionsunterricht leisten, um Jugendliche von der Faszination des Jihad zurückzuhalten?

Kaddor: Religionsunterricht kann präventiv wirken, darum ist er auch so wichtig, vor allem in deutscher Sprache und von hier ausgebildeten Lehrkräften. Jemand, der lang genug Religionsunterricht hatte – anders als meine Schüler -, soll in der Lage sein, einem Salafisten, der ihm weismachen möchte, dies oder jenes sei die richtige Lehre, entgegnen zu können, das könne er ja gar nicht wissen, das haben in der Geschichte des Islams schon viele behauptet, oder hinsichtlich Gewaltaufrufen im Koran sagen können: Nein, pass auf, ich habe gelernt, dass bestimmte Passagen im Koran im Kontext der damaligen Zeit verstanden werden müssen.

STANDARD: Welche Rolle spielt denn der Islam bzw. die Religion bei der Attraktivität des IS für Jugendliche? Oder ist es vielmehr eine tragisch-extreme Jugendprotestkultur?

Kaddor: Ich gehöre auch zu denen, die darin weniger einen Kampf der Kulturen, sondern eine Jugendprotestbewegung sehen, die sich in Europa etabliert hat. Entwicklungspsychologisch wollen wir alle in der Pubertät rebellieren, uns auf möglichst krasse Art gegen Familie und Gesellschaft auflehnen. Das ist ganz normal. Aber das Wichtige dabei ist: Junge Muslime haben in Deutschland – und in Österreich sicher auch – kaum die Möglichkeit, anders zu provozieren. Neonazis können sie schlecht werden, dort werden sie natürlich nicht aufgenommen, und die Linksradikalen haben das Potenzial dieser Gruppe noch nicht wirklich ausgemacht. Die Salafisten haben das schon, und das nutzen sie ganz gezielt. Im Grunde genommen sind die Salafisten nur so erfolgreich, weil sie die besseren Sozialarbeiter sind. Da müssen wir ansetzen.

STANDARD: Gibt es Merkmale, die die Jugendlichen, die der "Jihadromantik" verfallen, verbinden? Insgesamt sind bis jetzt 740 deutsche Jihadisten, der jüngste erst 13, nach Syrien und in den Irak ausgereist.

Kaddor: Häufig fehlt in diesen Elternhäusern der Vater. Die Vaterfigur fehlt entweder tatsächlich, physisch oder emotional, psychisch, um Normen, Grenzen, Werte zu vermitteln. Wenn diese Instanz fehlt und nicht anderweitig ersetzt wird, fehlen ganz wichtige Dinge, die in der Erziehung mitverantwortlich sind, um unsere Persönlichkeit zu entwickeln.

STANDARD: Der letzte Satz in Ihrem Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Jihad ziehen" lautet: "Keine Ausflüchte, keine Relativierung, keine Entschuldigungen – wir müssen die Fanatiker stoppen." Wo sehen Sie in der politischen Debatte Ausflüchte und Relativierungen?

Kaddor: Die sehe ich bei den Muslimen selbst, die sagen: Damit haben wir nix zu tun, das sind Salafisten und keine normalen Muslime. Aber es ist die gemeinsame Religion, die dafür missbraucht wird. Darum muss man eine klare Position beziehen – ich spreche nicht von Distanzierung, aber von Positionierung -, das fehlt mir. Auf der anderen Seite fehlt mir in der Mehrheitsgesellschaft eine strikte Ablehnung von Islamfeindlichkeit. Manchmal könnte man meinen, es gehört inzwischen in ganz Europa zum guten Ton, eine vermeintlich "islamkritische" Position zu beziehen. Wenn wir den Salafismus bekämpfen wollen, müssen wir die Islamfeindlichkeit mit bekämpfen, sonst werden wir das Phänomen nicht eindämmen können, besiegen sowieso nicht. Denn die Islamfeindlichkeit ist ein weiteres wichtiges Argument in der Verführungsstrategie der Salafisten.

STANDARD: Fällt das Kopftuch auch unter die von Ihnen genannte Islamfeindlichkeit?

Kaddor: Natürlich ist das ein Bestandteil von Islamfeindlichkeit. Ich habe ein relativ nüchternes Verhältnis zum Kopftuch. Ich trage selbst keines und habe das klassisch-theologisch dargelegt. Aber ich habe kein Problem damit und mache mich dafür stark, dass andere Frauen das anders entscheiden dürfen. Das Kopftuch allein ist noch lange kein Anzeichen für Islamismus oder Radikalisierung oder sonst was. Es ist vor allem ein Ausdruck von Gläubigkeit.

STANDARD: Gehört zu den "Relativierungen", wenn es um den Terror und die Verbrechen des IS oder von Al-Kaida geht, auch der Satz: "Das hat aber nichts mit dem Islam, dem wahren, dem echten, zu tun"?

Kaddor: Das ist eine Schutzbehauptung. Dass Muslime das sagen, ist klar. Diese Aussage resultiert aus den ständigen Angriffen auf ihre Religion und der ständigen reflexartigen Verteidigungshaltung. Es wird ja dauernd gesagt: Aber der Islam, der Islam, der Islam ist das Problem! So kommen wir genauso wenig weiter. Nicht der Islam ist das Problem, sondern ganz unterschiedliche Faktoren spielen eine Rolle. Zum einen gibt es natürlich ein definitiv falsches, weil starres, Islamverständnis seitens dieser Radikalisierten, zum anderen aber sehen wir nicht, dass soziale Phänomene die wirklichen Auslöser sind und nicht die Religion. Sie wird vor allem als Grund genommen, um Macht überhaupt erst ausüben zu können. Das heißt, wir müssen da viel stärker gesamtgesellschaftlich und ganzheitlicher reingehen und das nicht nur als theologisch-religiöses Problem der Muslime betrachten, sondern als soziale Herausforderung an uns alle, denn es betrifft uns alle.

STANDARD: Wie sollen Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer reagieren, wenn plötzlich ein pubertierendes Kind da ist und der Religion auf einmal großen Stellenwert einräumt?

Kaddor: Ich würde erst einmal immer das Gespräch mit dem Kind suchen und schauen, was dahintersteckt. Ist das wirklich eine positive, tiefere Zuwendung zu Gott und zur Religion, dann ist das nicht besorgniserregend. Ist das aber etwas, das mit politischer Meinung in Verbindung gebracht wird und einhergeht mit irgendwelchen kruden Verschwörungstheorien und starker Abgrenzung zu anderen, die als minderwertig betrachtet werden, dann sind ernsthaft andere Gespräche nötig.

STANDARD: Was reizt Mädchen am Leben im "Islamischen Staat"? Sie schreiben vom "Heiratsjihad". Der deutsche Verfassungsschutz schätzt den Frauenanteil unter den Salafisten auf zehn Prozent.

Kaddor: Diese Mädchen wollen in erster Linie gegen das Elternhaus rebellieren. Zudem denken sie, man würde im sogenannten "Islamischen Staat" gerechter leben, es gäbe ein schöneres Leben, nicht so furchtbar anstrengend, sich um Jobs bewerben zu müssen, immer wieder diskriminiert zu werden. Beim IS sind ja alle Muslime angeblich gleich, wird ihnen eingeredet, jeder ist der Bruder des anderen, und gerade muslimische Frauen oder junge Mädchen denken, dort würden sie gerechter behandelt. Zu Hause leben sie vielleicht traditionell, weniger islamisch, aber vielleicht traditionell arabisch, und sind nicht gleichberechtigt mit ihren Brüdern.

STANDARD: Welche Präventionsmaßnahmen kann oder muss der Staat setzen?

Kaddor: Gezielte Programme, Aufklärung, politische Bildung sind gefragt. Das fängt an im Unterricht, es müssen aber auch andere Projekte gezielt gefördert werden. Denken wir an den Rechtsradikalismus, da macht der Staat ja auch einiges an politischer Bildung. All das müsste man auch auf den Salafismus übertragen.

STANDARD: Wie soll man mit Jihad-Rückkehrern umgehen?

Kaddor: Da muss man unterscheiden. Sind das traumatisierte Kinder, sind sie desillusioniert oder immer noch ideologisiert? Wenn sie Haftstrafen absitzen müssen, haben wir ja Erfahrungswerte, was ebenfalls den Rechtsradikalismus betrifft. Ich ziehe die Parallele ganz bewusst, denn das sind die gleichen Mechanismen. Diese Jugendlichen hätten von ihrer Voraussetzung her genauso gut rechtsradikal werden können, aber sie konnten es deshalb nicht, weil sie Muslime sind und/oder einen Migrationshintergrund aufweisen. Aber es sind im Grunde genommen die gleichen Programme, also zuerst präventiv ansetzen und dann Deradikalisierungsmaßnahmen einleiten.

STANDARD: Eine Gruppe, die gerade von Salafisten in Deutschland, aber auch in Wien anagitiert wird, sind Flüchtlinge, oft unbegleitete Minderjährige. Was ist da zu tun?

Kaddor: Ja, das passiert, und ich warne davor. Deshalb müssen wir schauen, dass wir diesen Flüchtlingen eben nicht nur eine neue lokale Heimat, sondern auch eine neue religiöse Heimat bieten können – und ein Islamverständnis, das mit unserer Demokratie kompatibel ist, denn das geht ja. Genau deshalb müssen wir diese Kräfte stärken.

STANDARD: Was wurde eigentlich aus Ihren fünf Syrien-Schülern?

Kaddor: Vier sind wiedergekommen und wurden relativ erfolgreich resozialisiert. Die waren maximal eine Woche in Syrien, die waren keine Kämpfer, sondern ziemlich schnell desillusioniert. Der eine, der noch dort ist, kämpft.

STANDARD: Haben Sie Kontakt zu den Rückkehrern, die Sie unterrichtet haben?

Kaddor: Ja. Die sagten alle, es mag zu der Zeit für uns die richtige Entscheidung gewesen sein, aber wir wissen heute, dass es falsch war. Es war nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben – wie man es uns dargestellt hat. (Lisa Nimmervoll, 4.10.2015)