Nestlé-Präsident Peter Brabeck-Letmathe kritisiert die Technikfeindlichkeit in Europa und sorgt sich um die Jugendarbeitslosigkeit.

STANDARD: Warum ist das Image von Nestlé eher negativ?

Brabeck-Letmathe: Das ist vielleicht in Ihrem Kopf. Die Konsumenten, auch die Mehrheit der Bevölkerung sehen das nicht so. Das zeigen diverse Image-Studien, eigene genauso wie fremde.

STANDARD: Viele Konsumenten wissen gar nicht, dass Nestlé drin ist, wo anderes drauf steht. Man spricht auch von der Krake Nestlé.

Brabeck-Letmathe: Wenn sie nicht wissen, welche Marken und welche Produkte zu uns gehören, können sie auch nicht von einer Krake sprechen. Anders wäre es, wenn sie das genau wüssten. Dann könnten sie sagen, Nestlé deckt einen großes Teil des Lebensmittelsektors ab – was auch stimmt. Wir sind aber trotzdem relativ klein.

STANDARD: Sie beherrschen die Supermarktregale der Welt …

Brabeck-Lethmathe: Absolut nicht. Wir haben einen Marktanteil von 1,5 Prozent auf einer globalen Skala. Wir sind weder eine übermächtige Krake noch ein marktdominierender Faktor. Wir sind zwar das weltgrößte Unternehmen im Bereich Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden, aber innerhalb unseres Sektors sind wir ein Spieler unter vielen.

STANDARD: Als weltgrößter Nahrungsmittelkonzern stellen Sie nicht nur Nahrung her. Ihnen müssten die Türen doch überall offen stehen?

Brabeck-Letmathe: Sie stehen uns in dem Sinn offen, dass wir so gut wie in jedem Land der Welt mit unseren Produkten und Dienstleistungen vertreten sind. Es ist nicht wichtig, wie groß man im Durchschnitt ist. Viel wichtiger ist die Größe innerhalb eines Marktes, eines Landes. In China etwa sind wir die Nummer drei oder vier. Es gibt große chinesische Firmen, die am Heimmarkt stärker und wichtiger sind als wir. Das ist auch in den USA so und auf anderen Märkten auch.

STANDARD: Die Globalisierung hat vieles gebracht, den globalen Konsumenten aber nicht. Wieso?

Brabeck-Letmathe: Weil es den nicht gibt. Das habe ich schon vor 25 Jahren gesagt, als die große Globalisierungsdiskussion stattgefunden hat. Vor allem in Österreich gab es damals sehr emotionale Gespräche mit dem Tenor, wir seien verantwortlich, dass es nur noch einen Durchschnittskonsumenten auf der Welt gebe. Es hat sich gezeigt, dass das alles ein vollkommener Blödsinn war.

STANDARD: Das Zusammenwachsen der Welt scheint unverrückbar. Könnte das Pendel dennoch zurückschlagen und die Globalisierung in Stücke hauen?

Brabeck-Letmathe: Die Welt ist heute differenzierter als noch vor einigen Jahren. Wir sehen mehr Spannung zwischen Staaten und Regionen, innerhalb der EU genauso wie zwischen EU und USA oder EU und Russland. Sogar innerhalb einzelner Länder gibt es Auseinandersetzungen, etwa zwischen Spanien und Katalonien oder England und Schottland.

STANDARD: Es gibt mehr zu tun denn je, aber zu wenig bezahlte Arbeit. Wie lässt sich das auflösen?

Brabeck-Letmathe: Global betrachtet stimmt das nicht. Nimmt man nur Europa, trifft das teilweise zu. Beschränkt man sich auf den Süden Europas, dann stimmt es zu hundert Prozent. Wir sollten aber nicht vergessen, dass in den letzten Jahren weltweit mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden als je zuvor. Nur sind diese Arbeitsplätze nicht in Europa entstanden. Hier gab es bereits vor der jüngsten Krise eine chronisch höhere Arbeitslosigkeit als in vielen anderen Teile der Welt. Der jetzige Zustand ist zweifellos alarmierend.

STANDARD: Gibt es ein Mittel, die Situation zu entschärfen?

Brabeck-Letmathe: Es gibt nur ein Rezept: Wirtschaftswachstum. Daher müssten wir diskutieren, was für Möglichkeiten es gibt, das Wirtschaftswachstum in Europa anzukurbeln. Hauptproblem ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit.

STANDARD: Manche sprechen von einer verlorenen Generation?

Brabeck-Letmathe: Das ist so. Wenn junge Menschen zehn Jahre lang keine Arbeit finden, ist das eine verlorene Generation. Wenn sich die Situation bessert – es gibt Anzeichen dafür in Portugal, Spanien und anderswo – kommt wahrscheinlich die nächste Generation zum Zug. Jene, die schon lang arbeitslos sind, werden nur  schwer eine Stelle ergattern. Diese Generation kann langfristig zu einem echten, sozialen Problem werden. Das ist auch der Grund, warum Nestlé im Vorjahr eine Initiative lanciert hat, bis 2016 rund 20.000 Anstellungen für Jugendliche in Europa zu kreieren.

STANDARD: Wie weit sind Sie?

Brabeck-Letmathe: Wir haben in den zurückliegenden neun Monaten rund 4.900 Stellen geschaffen.

STANDARD: Woher rührt die Technikfeindlichkeit in unseren Breiten. Ingenieure sind Mangelware, weibliche Ingenieure noch viel mehr?

Brabeck-Letmathe: Wir haben in Europa rund sieben Prozent der weltweiten Bevölkerung, machen 25 Prozent des globalen GDP, haben aber 50 Prozent der weltweiten Sozialaufwendungen, also überdurchschnittlich viel. Auf dem Bildungssektor hatte in den vergangenen 30, 40 Jahren alles, was sozial gewesen ist, Vorrang. Heute ist es so, dass wir das Wirtschaftswachstum, das auf Innovation und Technologie aufbauen sollte, gar nicht zustande bringen, weil uns die Ingenieure fehlen.

STANDARD: Haben wir dafür in Europa nicht andere Qualitäten?

Brabeck-Letmathe: In welches Land hätten Sie am meisten Vertrauen? In jenes, das 700.000 Rechtsanwälte pro Jahr produziert wie die USA, 700.000 Sozialwissenschaftler wie Europa oder 700.000 Ingenieure wie China?

STANDARD: Zu glauben, diese Lücke ließe sich innerhalb kürzerer Zeit schließen, ist wohl Illusion?

Brabeck-Letmathe: Ohne Immigration wird es nicht gehen.

STANDARD: Nestlé hat sich wiederholt Kritik eingehandelt mit dem Versuch, aus herkömmlichem Wasser Kapital zu schlagen?

Brabeck-Letmathe: Das ist eine rein emotionale Sache, die keiner objektiven Analyse standhält. Erstens, wir füllen 0,0009 Prozent des Wassers ab, das vom Menschen verwendet wird. Auch wenn man Nestlé verbieten würde, Wasser in Flaschen zu füllen, hätte das null Auswirkungen auf die Wasserversorgung. Zweitens: Sobald es irgendwo auf der Welt ein Erdbeben, eine Überflutung oder eine andere Katastrophe gibt, sind wir die Ersten, die angefragt werden, mit Flaschenwasser zu helfen. Das allein zeigt schon, dass abgefülltes Wasser wertvoll ist und eine Funktion hat.

STANDARD: Was kommt nach dem Boom von Functional Food?

Brabeck-Letmathe: Die Nahrungsmittelindustrie war lange Zeit nichts anderes als ein Kalorienabdeckungsverein, war dabei aber unglaublich erfolgreich. Lag die mittlere Lebenserwartung in Europa um 1800 noch bei 30 Jahren, ist sie mit der Kurve der Kalorienversorgung bis auf 78 Jahre gestiegen. 1995 ist dann etwas geschehen, das die 200-jährige Korrelation einbrechen ließ.

STANDARD: Was ist passiert?

Brabeck-Letmathe: Zu viel des Guten. Geht es über eine gewisse Kalorienmenge hinaus, sinkt die Lebenserwartung. Es kommt jetzt auf die Qualität der Kalorien an. Deshalb haben wir Nestlé von einer reinen Lebensmittelfirma zu einer Nutrition, Health and Wellness Company umgebaut.

STANDARD: Der funktionale Zyklus ist noch nicht am Ende?

Brabeck-Letmathe: Absolut nicht, er hat sich verändert. In vielen Ländern liegt die Lebenserwartung bei 50 Jahren. Die Menschen dort brauchen Kalorien, damit sie länger leben. In weiten Teilen der Welt müssen wir diese Kurve qualitativ verbessern, um die Lebenserwartung weiter zu heben und zu einem längeren, aktiveren, gesunden Leben zu kommen. Das wird unsere Hauptaufgabe in Zukunft sein.

STANDARD: Sie sitzen in Aufsichtsräten so unterschiedlicher Unternehmen wie L'Oréal, ExxonMobile, Credit Suisse und der Formel eins von Bernie Ecclestone. Gibt es ein Erfolgsgeheimnis, warum sich diese Unternehmen wie Nestlé auch so lange an der Spitze halten?

Brabeck-Letmathe: Wenn wir Exxon, Nestlé und L'Oréal betrachten, zeigen sich Parallelen: Alle drei sind, obwohl in unterschiedlichen Bereichen tätig, sehr langfristig orientiert.

STANDARD: Trotz der Fixiertheit des Kapitalmarkts auf Quartalsergebnisse?

Brabeck-Letmathe: Diese Firmen können sich das leisten. Richtig ist, man muss sich eine gewisse Unabhängigkeit von den Finanzmärkten erst erkämpfen. Bei Nestlé haben wir das in die Firmenstatuten hineingeschrieben. Wir haben gesagt, die Aufgabe von Nestlé ist es, einen langfristig nachhaltigen Wert für Aktionäre und Gemeinschaft zu schaffen. Bei allen drei Unternehmen sehe ich auch ein absolutes Commitment für die Produkte und Dienstleistungen. Hier zu sparen wäre tödlich.

STANDARD: Ist Bio notwendig oder der simple Versuch, Konsumenten mehr Geld abzuknöpfen?

Brabeck-Letmathe: Ich würde nicht sagen, dass es ein Versuch ist, Konsumenten Geld abzutrotzen. Ich zahle für meine Bioprodukte auch 30 Prozent mehr als für andere und mache das gern. Ich kann es mir aber auch erlauben. Das Problem ist, dass wir eine Weltversorgung an Lebensmitteln mit Bio nicht sicherstellen können, dazu ist die Biolandwirtschaft nicht effizient genug.

STANDARD: Sie sind begeisterter Alpinist. Ihr schönster Gipfelsieg?

Brabeck-Letmathe: Jeder Gipfel hat seinen eigenen Charme. In besonderer Erinnerung habe ich die Jungfrau-Spitze. Einem Journalisten, der behauptete, dass ich ihn boykottiere, gab ich da oben ein Rendezvous um 8.30 Uhr in der Früh. Dementsprechend interessant fiel das Interview aus. Das war etwas Besonderes.

STANDARD: Und im übertragenen Sinn?

Brabeck-Letmathe: Beim Bergsteigen ist nicht der Gipfel das Wichtigste, für mich ist es immer der Anstieg und die Freude daran. Das gilt auch für das Geschäftliche. Für mich war es ein wunderschöner Aufstieg vom Eisverkäufer in Österreich zum Chairman und CEO von Nestlé mit der Möglichkeit, die Zukunft kreativ zu gestalten. Jetzt muss ich mich langsam für den Abstieg vorbereiten, der in den nächsten paar Jahren kommen wird. Ich möchte zusehen, dass auch der Abstieg Freude macht. Es gibt nämlich auch schöne Blumen beim Hinuntergehen. (Günther Strobl, derStandard.at, 23.6.2014)