Mai 2019: Europa steht unter dem Schock des Ausgangs der Europawahlen. In den vergangenen Jahren war die EU-Skepsis in vielen Ländern weiter gestiegen. Dem Block der rechtspopulistischen Parteien im Europaparlament, der nach der Wahl 2014 gebildet wurde, war es gelungen, weitere Gruppierungen an sich zu ziehen.

Mit ihrer Spitzenkandidatin Marine Le Pen, die die französische Präsidentenwahl  gegen einen konservativen Kandidaten nur knapp verloren hatte,  ist die „Allianz der Patrioten“ schließlich auf 23 Prozent der Stimmen gekommen.

Die konservative EVP ist auf 22 Prozent abgerutscht, die Sozialdemokraten auf 21 Prozent.  Grüne, Linke und Liberale legten zu, aber die Rechtspopulisten sind knapp Nummer eins.

Nun beansprucht Le Pen lautstark den Posten des EU-Kommissionspräsidenten für sich. Sie verweist auf Jean-Claude Juncker, der 2014 als Spitzenkandidat der größten Fraktion nach anfänglichem Widerstand zum Kommissionspräsidenten gekürt wurde.

Keine Handhabe gegen Le Pen

Obwohl die anderen Parteien sowie die Staats- und Regierungschef genau wissen, dass Le Pen das Ziel hat, die EU von innen zu zerstören, finden sie keine Handhabe, um Le Pens Anspruch zurückzuweisen. Denn fünf Jahre zuvor war das Prinzip, dass der Spitzenkandidat der größten Parlamentsfraktion automatisch an die Spitze der Kommission rückt, mit breiter Unterstützung der Medien und der öffentlichen Meinung als de-facto-Unionsrecht etabliert worden.

Wer gegen Le Pen ist, ist undemokratisch, tönt es von allen Seiten. Es ist der Anfang vom Ende der Europäischen Union.

Argument gegen Junckers Ernennung

Das hier beschriebene Szenario ist nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Und es ist ein entscheidender Grund, dass ich als eine der wenigen Stimmen in Österreich und Deutschland gegen die automatische Ernennung Junckers zum Kommissionspräsidenten anschreibe.

Wer immer, auch unter meinen journalistischen Kollegen, diesen Schritt als einzig wahre Umsetzung des legitimen Wählerwillens betrachtet,  sollte sich die möglichen Folgen vor Augen führen. Denn hier wird die Entscheidung über die wichtigste Position in Europa einem Wahlprozess ausgeliefert, der von Zufälligkeiten geprägt wird und keine ausreichende demokratische Legitimität besitzt.

Für die Direktwahl, gegen den Abstecher

Ich bin ein großer Befürworter einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten, der dann nach einer Stichwahl tatsächlich von einer demokratischen Mehrheit gewählt wird. Aber der Abstecher über die stets von nationalen Themen geprägten Europawahlen funktioniert demokratiepolitisch einfach nicht.

Die 28 Prozent der Stimmen für die EVP, die intern auch nicht einig ist, sind keine ausreichende Grundlage, um deren farblosen Spitzenkandidaten einfach zum Sieger zu erklären und den Europäischen Rat das vertraglich zugesicherte Mitspracherecht zu verwehren.

Cameron und Orbán sind kein Grund

Dass die beiden EU-Skeptiker David Cameron und Viktor Orbán Junckers größte Gegner sind, ist noch kein Grund, sich bedingungslos für den Luxemburger zu deklarieren. Wie ich schon geschrieben habe, gibt es bessere Kandidaten.

Vor allem aber darf das Prinzip der Spitzenkandidaten nicht unumstößlich werden, bevor die europäische Demokratie wirklich funktioniert.

Nein, das ist nicht Berlin im Jänner 1933. Aber auch eine Kommissionspräsidentin Le Pen wäre eine höchst unschöne Aussicht. (Eric Frey, derStandard.at, 3.6.2014)