Endlich einmal ein EU-Gipfel, der nicht im Zeichen der Eurokrise und der Existenzprobleme einiger Mitgliedsländer der Währungsunion steht. Stattdessen routinierte Fingerübungen der Staats- und Regierungschefs zu den Plänen einer engeren wirtschafts- und finanzpolitischen Kooperation in der Eurozone – ein Mechanismus zur gemeinschaftlichen Aufsicht, Sanierung und Abwicklung der relevanten Banken inklusive.

So ließe sich das jüngste EU-Herbsttreffen in Brüssel auf höchster Ebene zusammenfassen, als Routinetermin. Alle konkreten Entscheidungen auch bei anderen Bereichen wurden auf Jahresende aufgeschoben. Aber so einfach ist es leider nicht.

Dieser EU-Gipfel war eben nicht nur eine inhaltliche Nullnummer, sondern ein Europäischer Rat des Versagens. Aus zweierlei Gründen.

Lampedusa

Erstens: Nach der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa, bei der mehr als 300 Menschen im Mittelmeer den Tod fanden, war da und dort die Erwartung aufgetaucht, die "Chefs" würden nun wenigstens im Ansatz eine ernsthafte Debatte beginnen (bzw. bei den Bürgern anstoßen), wie die gesamte Union und ihre Länder konkret zu einer besser geregelten Migrationspolitik kommen könnte.

Die generellen drei Ziele dafür sind längst (seit dem EU-Gipfel von Tampere im Oktober 1999) klar formuliert: Zwischen legaler Einwanderungspolitik, Flucht bzw. Asyl und zwischen dem kriminellen Schlepper- und Menschenhändlerunwesen müsse mehr Trennschärfe geschaffen werden, die Regeln human und vernünftig ausgestaltet werden. Im Schock über das Massensterben vor Lampedusa hatte der eine oder andere Regierungschef in den vergangenen Wochen auch "dringenden Handlungsbedarf" konstatiert.

Und was tat der Gipfel? Er behandelte das Problem eher am Rande, fertigte es in den Schlusserklärungen in ganzen fünf (!) Textzeilen ab, die man hier anführen muss. Spricht für sich, klingt wie Hohn, jeder weitere Kommentar überflüssig:

"Der Europäische Rat bekundet seine tiefe Trauer angesichts der jüngsten Ereignisse, bei denen hunderte Menschen im Mittelmeer auf dramatische Weise ums leben gekommen sind, die alle Europäer erschüttert haben. Ausgehend von der dringenden Erfordernis der Vorbeugung und des Schutzes und geleitet vom Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten sollten konsequente Maßnahmen ergriffen werden um zu verhindern, dass Menschen auf See ihr Leben verlieren und dass sich solche menschlichen Tragödien wiederholen."

Spähangriffe

Der zweite Grund, warum dieser EU-Gipfel wegen fehlender Entscheidungen nicht einfach nur belanglos war, sondern bedenklich, liegt im Umstand, wie die Staats- und Regierungschefs mit dem Thema der Spähangriffe der US-Geheimdienste auf die europäischen Bürger – und damit naturgemäß eng verbunden – mit der behaupteten angestrebten Verbesserung des Datenschutzes auf EU-gesetzlicher Ebene umgingen.

Man reibt sich die Augen um zu glauben, was da – nach einer gelungenen Finte und nach gewaltigem Druck durch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel  - allen ernstes angeschoben wurde. Zunächst einmal wurde vereinbart, dass "die Regierungschefs die Absicht von Frankreich und Deutschland zur Kenntnis nehmen, bilaterale Gespräche mit den USA anzustreben mit dem Ziel, noch vor Jahresende eine gemeinsame Vereinbarung zu den wechselseitigen Beziehungen auf diesem Gebiet (der Geheimdienste, Anm.) zu finden. Sie stellen fest, dass andere EU-Staaten eingeladen sind, sich dieser Initiative anzuschließen."

Und an anderer Stelle, wo es um den Ausbau der digitalen Infrastrukturen in der Union, um die Stärkung der "digitalen Agenda" in der Union geht, ist die Rede davon, dass "die Verabschiedung eines soliden allgemeinen Rahmens für den Datenschutz in der EU und der Cybersicherheitsrichtlinien für die Vollendung des digitalen Binnemarktes bis 2015 von entscheidender Bedeutung" ist.

Man muss das nicht zweimal lesen um zu begreifen, welcher Sprengstoff sich darin verbirgt: Sowohl für die Rechte der Bürger auf Schutz vor dem Zugriff der Staatsmacht oder großer Internetkonzerne auf die Privatsphäre als auch, was die Kooperation der Geheimdienste (und nicht deren Kontrolle!) bedeutet.

Kein wichtiges Anliegen

Den Staats- und Regierungschefs ist der Datenschutz entgegen ihren Beteuerungen kein wichtiges Anliegen. Die Verschiebung einer neuen Datenschutzverordnung (die die alte geltende aus dem digitalen Steinzeitjahr 1995 ersetzen soll) ist ein Rückschritt. Die EU-Kommission drängt seit fast zwei Jahren auf eine Erneuerung, will das Recht auf Lösung von Daten oder hohe Strafen bei Verstößen durchsetzen. Das Europaparlament hat erst vergangene Woche darauf gedrängt, die Datenschutz-Verordnung noch vor den EU-Wahlen im Mai 2014 über die Bühne zu bringen. Die nationalen Regierungen haben das nun in die Luft geschossen.

Den Anlass lieferte Merkel mit der Affäre über ihr Mobiltelefon, das von den US-Diensten abgehört wurde. Sie zündete die mediale "Bombe" mit einem angeblichen Wutanruf bei US-Präsident Barack Obama am Abend vor dem EU-Gipfel.

Ergebnis: Sie und der französische Präsident Francois Hollande werden nun mit Obama persönlich und bilateral aushandeln, wie sie weiter vorgehen wollen; wie die Geheimdienste zusammenarbeiten sollen; was sie tun sollen können oder nicht; wie Bürgerrechte berücksichtigt werden. Was dabei wirklich gesprochen wird, das wird kaum jemand erfahren, denn eine Einbindung der Parlamente ist zumindest bisher nicht vorgesehen. Auch die EU-Kommisison und das EU-Parlament bleiben außen vor. Die anderen EU-Staaten, voran die kleinen, sowieso. Sie alle werden nach Jahresende das "fressen" müssen, was Merkel/Hollande/Obama ausgeklügelt haben.

Kurios: Die erst im Juni nach den Enthüllungen von Edward Snowden zu den NSA-Abhörungen eingesetzte Arbeitsgruppe EU-USA erscheint nun wie ein schlechter Witz. Sie ist völlig überflüssig geworden. Worüber soll sie beraten, wenn die mächtigsten Menschen der Welt alles unter sich ausmachen – ohne Kontrolle?

Auffallend ruhig verhielt sich dazu den ganzen Gipfel über der britische Premier David Cameron. Er ließ in seiner abschließenden Pressekonferenz nur wissen, dass "die Regierung ihrer Majestät prinzipiell keine Auskunft darüber gibt, was ihre Geheimdienste tun". So gesehen hatte der EU-Gipfel doch ein bisschen was von James Bond. Genaue Beobachter hatten sich das schon beim Eintreffen Merkels zum Gipfel gedacht: Sie kam in einer Limousine mit belgischem Kennzeichen. Die Nummer: 007. (Thomas Mayer, derStandard.at, 25.10.2013)