Studierende in der Türkei geraten schnell in Verdacht, staatsfeindlich zu sein, oder sie werden als Terroristen verdächtigt, wenn sie ihre Kritik zu laut artikulieren.

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Istanbul/Paris - Terrorist zu sein bedarf es wenig: Man nehme an einer Erster-Mai-Demo für Bildungsfreiheit teil, klebe im Vorfeld einige Plakate für diese, besuche ein Konzert der Musikgruppe Yorum, die sich für Freiheitsrechte einsetzt, und bewerbe die Aufführung eines Dokumentarfilms über politische Gefangene.

Dem Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuches zufolge allesamt " Aktivitäten zur Förderung des Linksterrorismus", derer die frankotürkische Studentin Sevil Sevimli angeklagt ist. Ihr drohen bis zu 32 Jahre Haft. Im vergangenen Studienjahr hatte die Studentin Sevimli ein Erasmus-Jahr in Eskisehir im Nordwesten der Türkei absolviert.

Sevimli, die auch einen türkischen Pass besitzt und zur in der Türkei benachteiligten Minderheit der Kurden gehört, hat sich im Zuge ihres Auslandsjahres eingangs erwähnter "Vergehen" schuldig gemacht. Am 10. Mai 2011 stürmte rund ein Dutzend schwer bewaffneter Polizisten um sechs Uhr morgens Sevimlis Wohnung im Studentenheim.

Während ihrer dreimonatigen Untersuchungshaft durfte sie keinen Besuch empfangen und war plötzlich "von der normalen Welt abgeschnitten", wie sie am Telefon erzählt. Die dortigen Haftbedingungen - "ungenießbares Essen, Duschen nur zweimal die Woche" - zehrten an ihren Kräften. Zu einer Prüfung, die sie in dieser Zeit an der Uni ablegte, wurde sie von gleich vier Polizeibeamten begleitet. Ihre Mutter trat vor dem Gefängnisgebäude in einen Hungerstreik.

Seit dem offiziellen Prozessbeginn im September durfte Sevimli nicht nach Frankreich zurückkehren und wohnt deshalb bei Familienangehörigen im Süden des Landes - ihr Prozess wurde am 19. November fortgesetzt. Besonders an Sevimlis Fall ist, dass mit ihr zum ersten Mal eine EU-Bürgerin angeklagt ist, was zu diplomatischen Verstimmungen führte. So ermahnte etwa Hélène Flautre, Vorsitzende des gemischten EU-Türkei-Ausschusses im EU-Parlament, den türkischen EU-Minister Egemen Bagis im Juli in einem offenen Brief, "endlich die Grundrechte seiner Studenten zu garantieren". Wie Sevimli sind in der Türkei noch 2800 andere Studenten wegen des besagten Gesetzes eingesperrt. Dem Studenten Kayhan Tüney brachte die Mitgliedschaft in der Jugendorganisation einer prokurdischen Partei, die sich klar von der Gewalt der Terrororganisation PKK abgrenzt, eineinhalb Jahre Gefängnis.

Dem Schwerbehinderten, der seine Arme und Beine so gut wie gar nicht bewegen kann, war im vorigen Jahr vorgeworfen worden, Polizisten geschlagen und getreten zu haben. Unterstützung erfahren die Studenten durch die Initiative "Solidarität mit gefangenen Studenten" (TODI), durch einige türkische Professoren und die Groupe international de travail (GIT). Die internationale Organisation setzt sich für Bildungsfreiheit in der Türkei ein. Ihr Vertreter Ferhat Taylan fordert: " Es ist allerhöchste Zeit, dass sich Europa offen gegen die demokratiefeindliche Politik der AKP-Regierung in der Türkei ausspricht."

In einem Mitte Oktober von der EU veröffentlichten Bericht heißt es, der Straftatbestand sei bei diesem Paragrafen derart "ungenau definiert", dass bereits das Verfassen eines Artikels oder einer Rede zu einer langen Gefängnisstrafe oder der Stigmatisierung als "Mitglied oder Chef einer Terrororganisation" führen kann.

Zensur bei Forschung

Die Zahl österreichischer Studenten, die sich für einen Erasmus-Aufenthalt in der Türkei entscheiden, hat sich seit 2008 um mehr als ein Drittel erhöht, die Uni Wien beispielsweise organisiert Austauschprogramme mit sechs türkischen Universitäten, negative Rückmeldungen seien der Uni angeblich keine bekannt. Auch Gerhard Volz, beim Österreichischen Austauschdienst zuständig für Erasmus, sieht keine " spezielle Vorsicht" geboten.

Der Türkei-Experte Hans-Lukas Kieser von der Uni Zürich rät nicht generell von einem Aufenthalt in der Türkei ab. Er verortet bezüglich Meinungsfreiheit tendenziell sogar eine eher positive Entwicklung in den letzten zehn Jahren - Einschnitte in der Freiheit der Forschung gebe es aber genug: "Selbstzensur und die Justiz in der Türkei verhindern es weiterhin, über aktuelle kurdische Themen und die historische Armenierverfolgung offen zu forschen." (Robert Schmidt, DER STANDARD, 22.11.2012)