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Der britische Historiker Ian Kershaw ist über die aktuelle Finanzkrise besorgt, hält die Lage trotz düsterer Prognosen aber für günstiger als jene der 1930er-Jahre.

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STANDARD: In Ihrem eben erst erschienenen Buch "Das Ende" gehen Sie der Frage nach, warum man im "Dritten Reich" bis zum bitteren Ende in selbstzerstörerischer Manier an Hitler festhielt. Wie wichtig war dabei Hitler, und wie wichtig waren im Vergleich dazu die Machtstrukturen?

Kershaw: Die Persönlichkeit Hitlers war natürlich sehr bedeutend. Seine Unnachgiebigkeit stellte eine unüberwindbare Barriere für alle Hoffnungen auf mögliche Friedensverhandlungen dar. Aber Hitlers Persönlichkeit allein erklärt nicht, warum die Macht- und Funktionseliten bereit waren, seinen Befehle zu folgen - selbst wenn alle wussten, dass der Weg in den Abgrund führte. Noch wichtiger als Hitlers Persönlichkeit waren daher die Herrschaftsstrukturen sowie die Mentalitäten, die jene untermauerten.

STANDARD: In Ihrem Vortrag vergangene Woche in Wien betonten Sie, dass wir keine verlässlichen Auskünfte über die Beliebtheit Hitlers haben, weil es damals keine Meinungsumfragen gab. Wie hat seine Popularitätskurve von 1933 bis 1945 Ihrer Meinung nach ausgesehen?

Kershaw: Alle Indizien deuten auf eine massive Zunahme seiner Beliebtheit zwischen 1933 und 1938 hin. Die Hauptgründe dafür waren der wirtschaftliche Aufschwung und die spektakulären außenpolitischen Triumphe. Mit den großen Siegen zwischen 1939 und 1941 erklomm er den Zenit seiner Popularität. Die wachsenden Verluste in der ersten großen militärischen Krise vor Moskau im Winter 1941 brachten die ersten Einbußen. Nach der Katastrophe von Stalingrad ging die Beliebtheit weiter zurück, erholte sich kurz nach dem misslungenen Stauffenberg-Attentat vom Juli 1944, war aber ab Herbst 1944 im freien Fall.

STANDARD: Wie groß war die österreichische Begeisterung für Hitler?

Kershaw: Vor dem "Anschluss" standen große Teile der österreichischen Bevölkerung den Nationalsozialisten fern, und es ist nicht anzunehmen, dass sie über den "Anschluss" erfreut waren. Die Begeisterung in Wien nach dem 13. März 1938 war dann ohne Zweifel echt - aber vor allem beim nationalsozialistischen Teil der Bevölkerung, der auf dem Heldenplatz im März 1938 gut vertreten war. Vielfach wurden Leute allerdings von ihrem Arbeitsplatz geschlossen hinkommandiert. Im letzten Kriegsjahr war die Stimmung gegen den Nationalsozialismus in Wien auffallend ausgeprägt. Dabei spielten sicherlich antideutsche Gefühle, die wegen der sich anbahnenden Katastrophe gewachsen waren, eine wichtige Rolle.

STANDARD: Sie erwähnen unter den strukturellen Gründen für das Festhalten an Hitler auch bestimmte Mentalitäten wie Pflichtgefühl und Gehorsam. Wie typisch deutsch waren die?

Kershaw: Viele Deutsche - ich denke etwa an die Teile der industriellen Arbeiterschaft, die dem Sozialismus oder Kommunismus nahestanden - hatten Werte wie Pflichtgefühl und Gehorsam nicht unbedingt verinnerlicht. Ich versuche daher nationale Stereotype zu vermeiden. Allerdings gab es in Deutschland durch Erziehung und Ausbildung eingeimpfte Werte, die bei Offizieren oder Beamten besonders stark verinnerlicht waren.

STANDARD: Welche Bedeutung kam der NS-Propaganda zu?

Kershaw: Zumindest in zwei Bereichen war die Propaganda im letzten Kriegsjahr erfolgreich: Erstens konnte sie die große Angst vor den Sowjets schüren, um den Durchhaltewillen zu stärken. Zweitens vermochte die Propaganda den Eindruck zu erwecken, eine Niederlage 1945 würde, anders als 1918, die Vernichtung Deutschlands und des deutschen Volkes bedeuten. Doch in der Hauptsache scheiterte die Propaganda - nämlich angesichts des immer klarer werdenden Desasters gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten.

STANDARD: Wie verhielt sich das Militär? Wie groß war die Zahl derer, die da nicht mitmachen wollten?

Kershaw: Es gab durchaus viele Deserteure. Man schätzt die Zahl von "Versprengten" - die Unterschiede zwischen ihnen und den Deserteuren waren fließend - auf etwa eine halbe Million in der letzten Kriegsphase. Deserteure mussten mit der Todesstrafe rechnen. Etwa 20.000 Soldaten der Wehrmacht wurden auch exekutiert, die meisten davon wegen Fahnenflucht. Im gesamten Ersten Weltkrieg betrug die Zahl gerade einmal 48.

STANDARD: Es wird immer wieder darüber gestritten, was die Menschen gerade auch in den letzten Kriegsjahren von den Verbrechen der Nazis mitgekriegt haben. Was weiß die Zeitgeschichtsforschung darüber?

Kershaw: Alles deutet darauf hin, dass die Kenntnis von deutschen Gräueltaten besonders im Osten weit verbreitet war und dass sehr viele zumindest eine Ahnung vom grausamen Schicksal der Juden hatten. Außerdem gingen die Todesmärsche in den allerletzten Wochen des Krieges mitten durch deutsche Ortschaften durch.

STANDARD: Sie argumentieren in Ihrem Buch, dass es in Deutschland bis in die 1950er-Jahre dauerte, ehe das Land wirklich demokratisch wurde. Sehen Sie das für Österreich ähnlich, wo es noch dazu kaum Reeducation gab?

Kershaw: Ich glaube nicht, dass die alliierte Reeducation eine ausschlaggebende Rolle spielte. Die Demokratisierung der Gesellschaft geschah weder in Deutschland noch in Österreich über Nacht. Der wirtschaftliche Erfolg der Demokratie in den 1950er-Jahren und danach war wohl in beiden Ländern entscheidend. Die "Aufarbeitung" der braunen Vergangenheit dauerte in Österreich allerdings länger und erfolgte erst mit der Waldheim-Affäre.

STANDARD: Sie haben unter anderem eine mehr als 2000-seitige Hitlerbiografie geschrieben und nun "Das Ende". Ist das auch das Ende Ihrer Erforschung des Nationalsozialismus?

Kershaw: Der Titel des jetzigen Buches ist, was meine eigene Arbeit angeht, passend, denn ich beende damit meine langjährigen Forschungen über den Nationalsozialismus und Hitler. Die großen Fragen dazu habe ich zumindest für mich selbst beantwortet. Ich werde als nächstes eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert schreiben, in der Hitler und der Nationalsozialismus aber natürlich auch eine wichtige Rolle spielen werden.

STANDARD: Angesichts der Krise des Finanzsektors fürchten viele, dass es wieder Zustände wie in den 1930er-Jahren geben könnte. Auch Sie?

Kershaw: Ich bin über die heutige Finanzkrise und deren mögliche Folgen sehr besorgt. Die politischen und auch wirtschaftlichen Strukturen bieten allerdings trotz aller düsteren Prognosen Möglichkeiten, die gewaltigen Probleme in den Griff zu bekommen. Insofern ist die Situation anders als die katastrophale Lage der 1930er-Jahre. Falls es zu einem gänzlichen Zusammenbruch des Kapitalismus kommen sollte, hätte ich große Ängste vor einem Anwachsen von politischer Gewalt. Es wird aber sicher zu keinem Vierten Reich kommen. (DER STANDARD, Printausgabe, 07.12.2011)