Paris: Englands Krawalle erinnern an 2005

In Frankreich wecken die Bilder aus Großbritannien böse Erinnerungen. Vor gerade sechs Jahren brannten schließlich auch dort die Vorstädte. Innerhalb von nur wenigen Tagen war der Funke, der sich am 27. Oktober 2005 in Clichy-sous-Bois im Nordosten von Paris entzündet hatte, übergesprungen und hatte die "Banlieues" im ganzen Land in Flammen gesetzt. Die Bilanz: drei Tote, hunderte Verletzte, zahlreiche zerstörte Schulen und mehr als 10.000 abgefackelte Autos. Erst Mitte November kehrte wieder Ruhe ein. Die dreiwöchigen Krawalle waren die heftigsten in Frankreich seit Mai 1968.

Die Unruhen entfachten, als Jugendliche auf der Flucht vor Polizeibeamten einen Stromschlag und starben. Die Nachricht von ihrem Tod verbreitete sich so schnell wie die Gerüchte, die Polizei sei Schuld gewesen.

Dies weckte offenbar, wie nun auch Le Figaro zutreffend schrieb, "ein Gefühl der Ungerechtigkeit, welches wiederum die allgemeinen und latent vorherrschenden Ressentiments nährt(e), die von einer realen sozialen Ausschluss-Situation herrühren" .

Tatsächlich entluden sich die Krawalle vor allem in den Vierteln der ohnehin sozial und wirtschaftlich benachteiligten Trabantenstädte, wo Jugendarbeitslosigkeit, Zahl der Einwanderer und Kriminalität besonders hoch sind. Heute, fünf Jahre später, hat sich das Bild in Clichy-sous-Bois zumindest nach außen hin verändert. Fassaden wurden bunt gestrichen, neue Wohnungen errichtet. Immerhin hatte die Regierung einen "Marschall-Plan" für die Vorstädte ausgerufen, um die tristen Vororte mit Milliarden zu sanieren. Doch das eigentliche Problem scheint nicht behoben: Die Armut ist nach wie vor hoch, und jeder vierte Einwohner ohne Job. (sys, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)

Griechenland: Proteste gegen Sparpolitik

Der Tod eines Schülers durch eine Polizeikugel war im Dezember 2008 in Griechenland Auslöser von Protesten tausender Menschen. In die meist friedlichen Märsche mischten sich einige hundert Gewaltbereite, die im Athener Stadtzentrum alles auf den Kopf stellten. Für die meist jugendlichen Autonomen-Anarchisten ist die Demokratie ein verhasstes Herrschaftsmodell, die Politiker sind "Verbrecher" und die Polizisten "Schweine und Mörder" . In Griechenland gibt es verzweifelte Jugendliche, denen durch Politik und Gesellschaft keine Perspektiven geboten werden. Den Schluss, dass die Gewaltbereiten den radikalsten Ausdruck dieses Problems darstellen, zieht jedoch kaum jemand.

Ähnliche Bilder wie 2008 - Szenen von Vermummten, die mit Steinen gegen die Sicherheitskräfte vorgingen, Fahrzeuge und Geschäfte demolierten und in Brand setzten - flimmerten aus Athen auch Anfang Juli 2011 über die TV-Schirme. Diesmal nutzten Randalierer Proteste empörter Griechen, die sich nach dem spanischen Vorbild der "Indignados" über Wochen am Syntagma-Platz der Hauptstadt versammelt hatten.

Deren Wut richtete sich gegen die Sparpolitik der Regierung und die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Umfragen zeigen, dass neun von zehn Griechen die regierende sozialdemokratische Pasok-Partei ablehnen und ebenso viele die oppositionellen Konservativen der Nea Dimokratia. Die "Empörten" wollten alle Parlamentsabgeordneten "in die Wüste" schicken. Ein gebastelter Galgen zeugte von nicht gerade friedlichen Absichten einiger Versammelter. Jene Mandatare, die für das Sparprogramm stimmten, das Hilfskredite von EU und IWF sichert, wurden als "Verräter" tituliert. (stad, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)

Spanien: Revolution auf Raten

Gewaltfrei lautete die Maxime der spanischen Protestbewegung der "Empörten" (Indignados). Seit diese am 15. Mai um die Plattform "Wahre Demokratie, jetzt" und Twitter zur #spanishrevolution aufrief, folgten landesweit tausende, zumeist junge, vom politischen und wirtschaftlichen Status quo Enttäuschte dem Beispiel der Besetzer des zentralen Madrider Platzes Puerta del Sol. Sie errichteten nach dem Motto "Yes, we Camp" Zeltlager in vielen Städten.

Bis zur Räumung der Puerta del Sol vergangene Woche war es ruhig um die "Indignados" geworden, doch prompt strömten über tausend Demonstranten tagelang "Die Revolution hat begonnen" oder "Diese Krise bezahlen wir nicht" skandierend und singend durch Madrids City. Erstmals kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zwanzig Verletzte, darunter sieben Polizisten, wurden medizinisch versorgt.

"Die Bewegung steht auf keinen Fall vor ihrem Ende, ganz im Gegenteil" , sagt Kerman Calvo, Soziologieprofessor von der Universität Salamanca zum Standard. Die Mitglieder der Bewegung könnten "mehrheitlich nicht arbeiten" - fast jeder Zweite unter 30 Jahren ist arbeitslos. Die vorgezogenen Parlamentswahlen und der Papstbesuch kommende Woche eröffneten "ein ideales Zeitfenster für neue Proteste" . Obwohl sich ihr Widerstand gegen beide Großparteien, Sozialisten wie Konservative, richte, werde ihr Einfluss auf das Wahlergebnis am 20. November sehr gering sein, prognostiziert Calvo: "Die meisten Protestierenden sehen sich nahe der Linken oder sind Nichtwähler" .

Im Wahlkampf werden sie aber präsent sein: Ein "Indignado" -Marsch soll Brüssel erreichen, und am 25. September sowie dem 15. Oktober sind Großkundgebungen anberaumt. (jam, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)

Mängel im Bildungswesen erregen Chilenen 

Diesmal sei es nur vereinzelt zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen, teilte die Polizei mit. Am Dienstag gingen erneut zehntausende Menschen in Chiles Hauptstadt Santiago auf die Straße. Auch in anderen Städten protestierten Schüler und Studenten für eine stärkere finanzielle Beteiligung des Staates an der Bildung. Bei den Protesten fünf Tage zuvor gab es dutzende Verletzte und mehr als 800 Festnahmen. Anders als am Donnerstag war die Demonstration am Dienstag genehmigt worden. Vorige Woche hatten die Bilder von Kindern und Jugendlichen, die vor Wasserwerfern und Tränengasbomben wegrannten, Erinnerungen an die Militärdiktatur geweckt und eine Solidaritätswelle ausgelöst. Die Bevölkerung machte ihrem Unmut mit ohrenbetäubendem Kochtopfdeckelschlagen Luft - wie einst gegen Diktator Augusto Pinochet.

Die Jugendlichen fordern dasselbe, das sie vor Jahren schon von Staatschef Sebastián Piñeras Vorgängerin Michelle Bachelet verlangten: ein stärkeres Engagement des Staates in der Bildung und das Ende eines Modells, in dem Gewinnmaximierung im Vordergrund steht. In Chile, dem Musterland des Neoliberalismus, ist die Bildung größtenteils privatisiert, finanziell äußerst kostspielig und damit ein Privileg der Geldelite. Studieren ist laut OECD fast nirgendwo auf der Welt so teuer wie dort. (wss, red, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)

 

Friedliches Zelteln für soziale Anliegen in Israel

Ist es das Aufbegehren einer Jugend ohne Perspektive oder der Aufschrei eines verärgerten Mittelstands mit bürgerlichen Ansprüchen? Die Proteste in Israel sind schwer einzuordnen, weil es so etwas noch nie gegeben hat, die Ziele diffus sind und unterschiedliche Kräfte mitspielen. Losgetreten wurde alles vor vier Wochen durch Filmstudentin Daphni Leef (25), nachdem ihr Mietvertrag gekündigt worden war. Da sie in Tel Aviv keine preiswerte Wohnung fand, schlug sie auf dem Rothschild-Boulevard ein Zelt auf. Inzwischen stehen Hunderte dort und in anderen Städten, die Zahl der Demonstrierenden schwillt von Woche zu Woche an.

Die Bewegung, die von friedensbewegten Linken bis zu nationalistischen Siedlern mitgetragen wird, hat auch deshalb starken Zulauf, weil sie einfach sympathisch ist. Es gab kaum Krawalle oder Reibereien mit der Polizei, man spielt Gitarre, verteilt Rosen, und Popstars geben Konzerte.

Aber der soziale Schmerz ist echt und zieht sich durch alle Altersgruppen. Studenten und junge Paare fordern kontrollierte Wohnungsmieten, Eltern wollen gratis Babyhorte, Autolenker sind empört über den Benzinpreis. Alle haben die Monopole und Preisabsprachen der Tycoon-Familien satt, die etwa Hüttenkäse, Energie, Telekommunikation und Bankspesen verteuern. Der Mindestlohn soll erhöht, die Mehrwertsteuer gesenkt werden. (seg, DER STANDARD PRintausgabe, 11.8.2011)