England brennt: Lassen wir zuerst einmal gleich alle Scherze beiseite. Das ist kein Clash-Song, schon gar kein Kaiser-Chiefs-Song, das ist der Anfang einer echten Katastrophe, die begonnen hat, schon lange bevor der erste Stein in die erste Fensterscheibe geflogen ist.

Ich weiß, es gibt nichts Unnötigeres als Leute, die nach dem Ereignis sagen, sie hätten's immer schon gewusst, aber ich darf kurz auf meine Jahresvorschau vom Dezember 2010 hinweisen:

"Große Schocks wie die Mehrwertsteuererhöhung, die Kürzung der Mietbeihilfe oder die Beschneidung der Gemeindebudgets stehen erst bevor. Die chauvinistische Schadenfreude über anderer Länder Schuldenkrisen wird davon kaum ablenken können, falls Großbritanniens neothatcheristisches Experiment nicht den vom konservativen Finanzministerium erträumten Boom des privaten Sektors bringen sollte.

Was wiederum jenen allmächtigen "credit rating agencies", denen die sparwütige Regierung alles recht machen will, erst recht nicht gefallen könnte. Die Arbeitslosenzahlen sind jedenfalls wieder im Steigen. Vielleicht geht sich hier also angesichts dessen, was heuer auf den Straßen von London, Athen, Paris oder Dublin passiert ist, doch noch die übliche düstere Prophezeiung aus. I predict a riot. Oder mehrere" (hier der komplette Text). 

Kein linkes Geschwätz

Wer glaubt, dass meine damalige Ansicht, dass die steigende soziale Härte, das Sparprogramm der Regierung und die wachsenden sozialen Gegensätze zu Straßenschlachten führen würden, nur linkes Geschwätz gewesen sei, der sollte einmal diesen Kommentar im erzkonservativen Daily Telegraph lesen:

"In der Blase der 1920er-Jahre streiften die obersten fünf Prozent der Verdiener ein Drittel aller Einkommen ein. Heute ist Großbritannien ungleicher - im Sinne von Gehältern, Reichtum und Lebenschancen - als zu jeder anderen Zeit seither. Allein im letzten Jahr stieg das Vermögen der reichsten 1000 Briten um 30 Prozent auf 333,5 Milliarden Pfund. Wenn auch das Epizentrum der gegenwärtigen Wirtschaftskrise die Eurozone ist, haben die britischen Regierungen doch dabei mitgespielt, die Armut, die Ungleichheit und die Unmenschlichkeit hervorzubringen, die jetzt durch die Finanzturbulenzen verschärft werden."

Keine politische Protestbewegung

Doch bevor wir die Riots in London als politische Protestbewegung missverstehen: Mit dem ursprünglichen Anlass, dem Tod des Mark Duggan durch eine Polizeikugel, hat das, was jetzt überall in England passiert, überhaupt nichts mehr zu tun. Und auch nicht mit Anarchismus und spontaner Umverteilung.

Sehr wohl aber mit einer Gesellschaft, in der seit Jahrzehnten das Haben zur höchsten Ambition und das Habenwollen zum Lebensinhalt geworden ist, die Shopping als einzige befriedigende Freizeitgestaltung kennt und wo etwa zur Regeneration des armen Viertels Stratford vor den kommenden Olympischen Spielen ausgerechnet ein Luxuseinkaufszentrum errichtet wird.

Man braucht sich in der Tat nicht allzu sehr wundern, wenn die, die all das nicht haben können, organisiert zur Gewalt greifen. Gerade London ist eine Stadt, die ihre Armen durch ihren Überfluss täglich von neuem demütigt.

Keine Rechtfertigung

Und doch ist das keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung für das auf der Straße ausgeübte Recht des Stärkeren. Darin ist keine Spur von Glamour zu finden. Die Menschen haben Angst, echte, begründete Angst. Auch die Menschen in Polizeiuniformen, die bisher so auffällig zögerlich vorgegangen sind.

In der Zwischenzeit haben die Einwohner begonnen, Aufräumaktionen zu organisieren. So wie die Straßenschlachten werden auch diese mithilfe der neuen Technologien koordiniert. (Robert Rotifer, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)