Für gewöhnlich kamen die russischen Nukleardrohungen seit der Invasion in der Ukraine immer mittwochs und von Ex-Präsident Dmitri Medwedew, dem nunmehrigen Stellvertreter im Nationalen Sicherheitsrat Russlands. Diesmal rückte aber wieder der Präsident höchstpersönlich aus, um via Verteidigungsministerium ausrichten zu lassen, dass man im südlichen Militärbezirk eine Reihe von Vorbereitungen für Trainings an nichtstrategischen Nuklearwaffen vornehmen werde. Aber was ist davon zu halten? DER STANDARD sammelt die wichtigsten Fragen und Antworten.

Frage: Was genau hat Wladimir Putin angeordnet?

Antwort: Der russische Machthaber hat lautstark angekündigt, was Militärs sowieso regelmäßig machen: Sie üben. Konkret will man in einem seiner fünf Militärbezirke, nämlich im Distrikt Süd, der neben den okkupierten ukrainischen Oblasten unter anderem auch Dagestan und Nordossetien umfasst, mit nichtstrategischen Atomwaffen üben, also mit taktischen Atomwaffen. Diese Übungen sollten zeitnah stattfinden, wo genau, wollte man aus verständlichen Gründen nicht sagen. Auch westliche Militärs üben den Einsatz ihrer Atomwaffen regelmäßig. Meist im Geheimen, mitunter aber auch angekündigt, um potenzielle Gegner nicht unnötig zu beunruhigen.

Frage: Ist diese Übung ungewöhnlich?

Antwort: Nein, Militärs sind nun einmal dazu da, im Zweifel alle ihre verfügbaren Waffen gegen einen von der politischen Führungsriege auserkorenen Feind einzusetzen. Dazu gehören bei den fünf offiziellen (Russland, USA, Frankreich, Großbritannien und China) und den vier inoffiziellen (Indien, Pakistan, Nordkorea, Israel) Nuklearwaffenstaaten eben auch deren Atomwaffenarsenale. Und diese sind teuer. Schätzungen zufolge gaben die USA 2022 für die Aufrechterhaltung ihres nuklearen Arsenals fast 43 Milliarden Dollar aus, China knapp zwölf und Russland um die zehn Milliarden Dollar. Nun birgt jede Übung mit nuklearen Waffen natürlich ein gewisses Risiko von Fehlern, im Grunde muss man aber froh sein, wenn die Militärs dieser Welt auch wissen, wie sie mit diesen Massenvernichtungswaffen richtig umgehen. Ein gewöhnliches Training in Friedenszeiten und eine Übung während eines aktiven Krieges sind aber freilich zwei Paar Schuhe.

Frage: Warum also genau jetzt?

Antwort: Hier muss man aufpassen, nicht der russischen Propaganda den Weg zu bereiten oder gar dieser zu verfallen, denn ähnlich wie die russische Propagandamaschinerie den Angriffskrieg gegen die Ukraine lediglich als Reaktion auf ukrainische und westliche Aktionen darstellt, behauptet Moskau auch, die nunmehrigen Übungen würde man nur in Reaktion auf westliche Provokationen durchführen – eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, wie sie der Kreml immer wieder versucht. Die Liste an Gründen für die aktuellen Übungen ist diesmal außergewöhnlich lang. Sie reicht von den ukrainischen Angriffen auf russisches Territorium, der britischen Erlaubnis dafür, auch britische Waffen zu verwenden, oder den neuesten US-Waffenlieferungen inklusive der gefürchteten ATACM-Raketen über die Lieferung der potenziell auch nuklearwaffenabschussfähigen F-16-Kampfjets bis hin zu Emmanuel Macrons strategischer Ambiguität in der Frage der Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine und der Bereitstellung französischer Atomwaffen unter einem EU-Schirm.

Kein roter Knopf.
EPA/PAVEL BYRKIN

Frage: Ist Putin also nervös wegen der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine?

Antwort: Das ist eine Interpretation, ja. Und logischerweise ist Russland nicht gerade erfreut über Waffenlieferungen, die dem russischen Militär heftigen Schaden zufügen können. Die andere Interpretation – und diese müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen – ist, dass die nukleare Drohkulisse einfach ein beliebter Weg der russischen Propaganda ist, um Angst im Westen zu säen und dadurch auf Umwegen die Unterstützung für Waffenlieferungen zu unterminieren, wenn man es schon nicht direkt schafft. Wenn etwa von der Bevölkerung Politiker gewählt werden, die ihrerseits diese Waffenlieferungen ablehnen, wäre das somit ein Erfolg der russischen Propaganda.

Frage: Ist die Angst vor einem Einsatz von Nuklearwaffen denn berechtigt?

Antwort: Ja und nein. Werden strategische Nuklearwaffen eingesetzt, hat schon eine einzige von ihnen (rund 12.000 existieren insgesamt) katastrophale Folgen. Das weiß man aus der Geschichte mit den Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki, das belegen auch die nackten physikalischen Kenngrößen. Vom Einsatz strategischer Nuklearwaffen ist aktuell aber keine Rede. Zwar hat Putin zu Beginn des Krieges noch gewarnt, dass "wer auch immer" Russland an den Kriegszielen in der Ukraine hindere, mit "Konsequenzen, welche es in der Geschichte noch nicht zu sehen gab", zu rechnen hätte. Aber dem ist Putin bisher wie zu erwarten nicht nachgekommen. Experten gehen davon aus, dass die Moskauer Führungsriege strategische Waffen nur bei einer "existenziellen Bedrohung" für Russland einsetzen könnte. Eine Frage ist freilich, ob Putin den Verlust (aus seiner Sicht) russischen Territoriums oder einen etwaigen Verlust seines Machterhalts mit einer solchen Bedrohung gleichsetzt. Aber zum Glück gibt es ja auch in Moskau gewisse Checks and Balances, und so könnte Putin niemals alleine einen solchen Einsatz befehligen, sondern bräuchte laut Nukleardoktrin immer auch die Zustimmung seines Verteidigungsministers und seines Generalstabschefs.

Frage: Aktuell ist aber ohnehin die Rede von taktischen Nuklearwaffen, oder?

Antwort: Richtig, das sind Sprengköpfe mit einer wesentlich geringeren Sprengkraft, aber immer noch äußerst brutale Waffen. Für einen solchen Einsatz dürfte die Hemmschwelle tatsächlich etwas niedriger, aber immer noch äußerst hoch liegen. Taktische Atomwaffen wurden für den Kampf auf dem Schlachtfeld konzipiert, weil man strategische für grundsätzlich uneinsatzbar hielt. So sollten dadurch etwa Verteidigungslinien durchbrochen oder Vorstöße aufgehalten werden. In einem geleakten Papier über russische War Games, also Szenarien, in denen Offiziere potenzielle Kriege am Reißbrett durchspielen, ging man davon aus, dass sie dann zum Einsatz kommen könnten, wenn etwa ein feindlicher Angriff nicht mehr anders aufgehalten werden könne, ein Fünftel der russischen U-Boot-Flotte ausgeschaltet würde oder die Kommandostrukturen entlang der russischen Küste ausgeschaltet würden. Auch das geht jedoch weit über die aktuellen Angriffe (und Fähigkeiten) der Ukraine hinaus.

Eine nuklearwaffenfähige Iskander-K-Rakete Russlands.
AP

Frage: Was wäre/ist die Reaktion des Westens?

Antwort: Ein guter Teil der westlichen Strategie, auf das russische Brusttrommeln zu reagieren, beruht darauf, eben nicht zu reagieren. Man sagt Putin auch nicht, wie man auf einen etwaigen Erstschlag reagieren würde, und man reagiert auf seine Drohgebärden niemals konkret. Für gewöhnlich reagiert Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dann mit Sätzen wie "ein nuklearer Krieg kann nicht gewonnen und sollte deshalb nicht gefochten werden". Sehr wohl aber kritisiert der Westen Putin dann immer für seine "rücksichtslose und gefährliche Rhetorik". Auch deshalb, weil ein Nuklearkrieg vor allem dann zu einem gefährlichen Szenario wird, wenn zu viel darüber gesprochen wird, wie das Beispiel des Kalten Kriegs zeigte.

Frage: Wie bedrohlich ist das Ganze nun?

Antwort: Der Einsatz nuklearer Waffen ist ob des nuklearen Tabus, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs gilt und nicht gebrochen wurde, noch immer sehr unwahrscheinlich. Zu hoch ist die Ächtung, zu schwerwiegend sind die Reaktionen, mit denen zu rechnen wäre. Putin droht mit einem auch noch so begrenzten Einsatz wichtige Partner wie China, das eine klare Doktrin gegen einen "first use" bei Nuklearwaffen hat, zu verlieren und stünde noch isolierter da, als er ohnehin schon ist. Ausgeschlossen kann es aber natürlich nicht werden. Nicht immer sind Putins Entscheidungen mit jenen eines rationalen Akteurs gleichzusetzen, auch wenn man davon ausgehen sollte, dass man bei solch entscheidenden Fragen für die Menschheit ein weiteres Mal nachdenkt. (Fabian Sommavilla, 7.5.2024)